Jap, voll vergessen.

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Annas alkoholvernebeltes Gehirn bemerkte, wie Lea Tommi in eine Unterhaltung verwickelte und ihn mit ihrem Charme besprühte. Würde sie doch auch so sein wie ihre Freundin, so offen und fröhlich. Würde sie sich doch nicht so runterziehen lassen von den Gedanken an Sven, daran, dass sie sich mit ihm zum ersten Mal hätte vorstellen können, mehr zu haben als nur eine Beziehung. Ehe, Kinder... auch, wenn seine Familie schon fast ätzend reich gewesen war, sie hatten sie gemocht. Und sie immer für ihre soziale Ader bewundert. Obwohl Sven diese auch oft als Spinnerei abgetan hatte – er war überzeugt davon, dass jeder, der sich nur genug anstrengte, das werden konnte, was er wollte. Nur wenn Anna in ihrer Schule diese Kinder sah, dann wusste sie, dass diese sich noch so sehr anstrengen konnten. Sie bekamen oft einfach keine Chance. Und dann war es schon sehr vermessen und arrogant, wenn jemand, der mit einem silbernen Löffel im Mund geboren wurde, sich über Chancengleichheit ausließ. Einen Moment lang vergaß sie das Handy in ihren Händen.
„Du siehst so nachdenklich aus", Anna schreckte hoch und ihr Blick traf den von Felix, der sie offenbar beobachtet hatte. Sie schüttelte kurz den Kopf, um ihre Gedanken loszuwerden.
„Entschuldige."
„Kein Problem. Woran hast du gedacht?"
„Chancengleichheit."
„Oh, okay, krasses Thema. Wird oft von Reichen als Argument benutzt, wenn es mal wieder darum geht, dass Kinder aus sozialen Brennpunkten mehr Förderung brauchen. Nur, dass die immer meinen, es gäbe hier schon Chancengleichheit. Und Chancengerechtigkeit wird dann außer Acht gelassen."
Anna lächelte. „Genau, so in etwa", sie nippte an ihrem Tequila Sunrise, „ich hab dich gestalkt", wow, das kam aus dem Nichts. Der Alkohol wirkte wohl schneller als gedacht.
„Ah ja?", er grinste.
„Lea und ich haben deine ganzen Videos gesuchtet. Du bist echt witzig."
„Wäre schlecht, wenn nicht, so als Comedian."
„Das ist wahr. Und Autor und... schon cool. Hab gestern gedacht, dass du quasi das Aushängeschild für Problemschulen bist. Dass man doch noch was werden kann."
„Na ja, aber auch nur, weil ich das wollte. Die Schule hat mir da jetzt nicht so viel bei geholfen, ehrlich gesagt. Hatte aber auch hauptsächlich Arschloch-Lehrer. Schätze mal, du bist nicht so."
„Woher willst du das denn wissen?"
Sein Blick traf sie direkt ins Herz. „Ich glaube, das kann ich schon ganz gut einschätzen." Anna räusperte sich. „Vielleicht schlage ich die Kinder ja auch."
„Siehst du irgendwie nicht nach aus", grinste er. Sein Blick fiel aus das Handy, das Anna noch immer umklammert hielt.
„Lass das mal lieber", sagte er bestimmt.
„Ich hätte ihm ja eh nur mal geschrieben, dass er ein Arschloch ist", grinste Anna.
„Trotzdem. Er merkt zu tausend Prozent, dass du besoffen bist."
„Stimmt, schlau ist er."
„Und guten Sex hattet ihr auch", rief Lea wieder dazwischen und Tommi sah ein bisschen beschämt aus.
„So gut nun auch wieder nicht", murmelte Anna und hatte das Gefühl, langsam wieder nüchtern zu werden.
„Kommt immer auf den Vergleich an", grinste Felix frech. Tommi schlug eine Hand vor das Gesicht, als Lea ihm die Ghettofaust gab und lachte. „Ich glaube, ich muss ein bisschen aufholen", murmelte der Detmolder und bestellte noch ein Bier. Anna schob das Handy ein Stück weiter von sich weg und beobachtete Felix und Lea nachdenklich, die jetzt wieder über irgendeine Show von ihm sprachen.
„Ist dein Bruder momentan auch zu Hause?", fragte Tommi Felix.
„Jo. Will mal seine Freundin wiedersehen, wenn wir schon das halbe Jahr unterwegs sind. Ist auch voll ungewohnt, im Moment so in der Wohnung zu sein und so. Normalerweise leb ich immer nur aus dem Koffer. Jetzt hat mich richtig der Aufräum-Wahn gepackt."
„Als ich noch alleine gewohnt habe, hab ich mal meine Sachen angeschrien, weil ich so sauer war, dass sie alles zustellen, zumüllen einfach... da sind. Ich hab viel zu viel Zeug. Also, jetzt nicht mehr. Hab alles rausgeworfen", warf Anna unvermittelt ein und nahm noch einen Schluck von ihrem Drink.
Überrascht blickte Felix sie an und öffnete den Mund, doch Tommi war schneller. „Hat Felix auch gemacht. Wir haben auch so eine Ausmisten-Aktion im Podcast gemacht. Wir haben echt alle zu viel Kram."
„Und manche Leute vergessen auch, wo ihr ganzer Kram noch liegt", sagte Felix mit bedeutungsvoller Stimme.
„Jaah, ich habe meinen Koffer bei dir vergessen", sagte Tommi leicht genervt. Offenbar war das schon öfter Thema gewesen.
„'N halbes Jahr stand die Scheiße bei mir rum, weil Herr Schmitt sich zu fein war, seinen Kram abzuholen. Und dann fragt er mich ernsthaft, ob ich ihm seine Sneaker zuschicken kann, weil er die auf irgendeinem Kölner Medienfuzzi-Event anziehen wollte. Hat man da noch Worte?"
„Hast du sie geschickt?", fragte Anna interessiert.
„Natürlich nicht, Alter", lachte Felix, „der kann sich doch neue kaufen, Spotify sponsert."
„Oder Luke, die Woche und ich", lachte Anna.
„Ne. Das bezahlen mir meine Arzteltern schon selber", schloss Tommi mit gespielt überheblichem Tonfall an die Geschichte an, „ne, ähm. Ich hab die Sachen ja jetzt mitgenommen."
„Sonst wären sie auch wie die Matratze geendet."
„Hast du die noch weggeräumt?", fragte Anna interessiert und erinnerte sich an das große Ding, über das Sven sich in regelmäßigen Abständen aufgeregt hatte.
„Hab sie in das Bermudadreieck vor meiner Haustür gestellt."
„Neukölln ist so super", grinste Anna.
„Geht so", kommentierte Lea.
„Ist halt nicht mehr so wie früher. Das wird hier auch zum Hipster-Hotspot", murmelte Felix.
„Mir ist das hier noch genug Straße", gab Lea zu, „am Kotti labern die Penner und die Junkies einen einfach immer an. Oder schreien so sinnlos rum oder so."
„Das sind so ne klassischen Kottipenner halt. Die haben auch ihre Berechtigung."
„Ich muss mich da auch immer dran gewöhnen", nickte Tommi, „ wenn man aus der Kleinstadtidylle kommt, ist das manchmal hart, zu sehen, wie die hier morgens schon Heroin aufkochen..."
„Ja, voll", Lea nickte zustimmend und Anna rollte mit den Augen. Hatte sie sich wirklich vorgenommen, den armen Tommi heute noch mit nach Hause zu nehmen?
„Als BVG-Fahrer Kind hab ich offiziell alles gesehen", sie lehnte sich zurück, „wenn Ferien waren und meine Mutter arbeiten musste, bin ich manchmal einfach den ganzen Tag mit Papa Linie gefahren, weil keiner auf mich aufpassen konnte. Da war immer was los."
„Krass. Sag mal, wenn dein Papa Busfahrer ist, kannst du mir sagen, wo die aufs Klo gehen?", fragte Tommi. Felix schüttelte den Kopf und winkte dann ab. „Hör nicht auf den, der ist besoffen."
„Ey, ich meine das ernst", empörte sich Tommi, „haben wir jetzt noch drüber gequatscht. Was, wenn man acht Stunden fahren muss? Man muss doch mal aufs Klo? Ich müsste ja schon nach einer halben Stunde."
„Das ist untertrieben."
„Papa ist immer einfach in manchen Cafés oder Restaurants gegangen, wenn er sich mal ein paar Minuten rausgefahren hat. Oder er hat die Verspätung in Kauf genommen, je nachdem, wie dringend es war", grinste Anna.
„Ein Busfahrer hat auch einen richtigen Scheißjob. Entweder du bist zu früh oder zu spät, und wenn du pünktlich bist, lobt dich auch kein Schwein", meinte Felix.
„Das ist wahr", sinnierte Anna, „hab ich so noch nie drüber nachgedacht", sie lächelte.
„Neue Runde?", Lea hatte schon den süßen Kellner heran gewunken.
Es wurde spät. Und später. Und sie wurden immer betrunkener. Irgendwann schloss die Bar, schließlich war es Montag. Sie hätten jetzt noch in den Kater Blau, eine Afterhour-Bar, gehen können, aber zu viert standen sie schließlich vor der Tür.
Felix rauchte eine Zigarette und bot Lea und Anna eine an. Lea verneinte, Anna, betrunken, nahm eine Kippe an.
„Was geht jetzt noch?"
„Alter, ich bin dreißig, ich hol mir jetzt noch einen Döner und gehe nach Hause."
„Ooh, Döner, das wäre ein Traum."
„Am Kotti haben sie den besten", Anna hustete.
„Alles klar, los!", rief Tommi und ging mit Lea voraus. Felix warf die Kippe auf den Boden und legte einen Arm um Annas Schultern.
„Ist dir kalt?", fragte er und sie roch den Rauch in seinem Atem, vermischt mit der kühlen Nachtluft.
„Jetzt nicht mehr", lächelte sie, „du weißt schon, dass die Verrückten jetzt sicher alle bei dir übernachten wollen?"
„Zählst du dich auch zu den Verrückten?"
Sie nickte.
„Dann ist das okay."

Annas Augen klebten. Ihre Zunge pappte am Gaumen, ein ekelhafter Geschmack hatte sich ausgebreitet und löste einen leichten Würgereflex bei ihr aus. Sie drehte sich um und öffnete die Augen schließlich. Ein stechender Schmerz durchfuhr die rechts Seite ihres Schädels und auch das weiche, dunkle Satinkissen unter ihrem Kopf linderte ihn nicht. Die weiße Wand gegenüber war ihr unbekannt.
Wo war sie überhaupt? Die drückenden Stellen an ihrem Körper und das leicht schwitzige Gefühl auf der Haut verrieten ihr, dass sie noch vollständig angezogen war. Nur ihre Schuhe trug sie nicht mehr. Sie drehte sich wieder auf die andere Seite und erschrak, als sie einen schlafenden Felix vor sich liegen sah. Auf dem Bauch, das Gesicht in ein Kissen gedrückt, schnarchte er friedlich und leise vor sich hin.
Anna riskierte es, aufzustehen. Gut, sie musste nicht kotzen, auch, wenn ihr etwas schwindelig war. Sie tapste durch die angelehnte Tür ins Wohnzimmer, wo sich ihr ein nicht weniger überraschender Anblick bot als im Schlafzimmer.
Lea lag, genau wie sie, vollkommen angezogen auf der Couch und schaute irgendeine Harz 4 – Sendung auf RTL. Sie grinste Anna an, nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, die neben leeren Bierflaschen und Dönerpapier auf dem niedrigen Wohnzimmertisch stand und deutete stumm auf Tommi, der im Sessel schlief.
Anna konnte nur seine wuschligen, braunen Haare sehen und umrundete dann den Sessel. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund, um nicht loszulachen. Tommi hielt noch seinen Döner in der Hand, halb aufgegessen und in Alufolie eingepackt. Friedlich schlief er über der Fleischtasche, die ihren Geruch im ganzen Wohnzimmer verbreitete.
„Oh Mann, bin ich zerfickt", Felix kam, ähnlich orientierungslos wie Anna, ins Wohnzimmer gelaufen. Er trug Boxershorts und ein weißes Muscleshirt. Lea auf dem Sofa zog die Augenbrauen hoch und starrte ihn unverhohlen an.
„Guck mal, Tommi", flüsterte Anna und deutete auf seinen schlafenden Freund. Felix lachte leise auf. „Geil."
„Brauche jetzt aber erstmal eine Kippe. Dann mach ich Kaffee. Und irgendwer muss ein Foto von Tommi machen", er lief zum Wohnzimmertisch und schnappte sich die angebrochene Schachtel Zigaretten, die darauf lag.
„Was, warum Foto?", Tommi schüttelte vorsichtig den Kopf und erschrak dann, sodass ein Teil seines Döners auf den Teppich fiel.
„Oh nein, jetzt ist er wach", Lea packte ihr übergroßes iPhone wieder weg.
„Oh, ein Döner", stellte Tommi fest und schaute dann verschmitzt zu Felix auf, „krass. Bin ich wohl drüber eingenickt. Ein kleiner, ganz ekliger Teil von mir hat Lust, den jetzt aufzuessen", er grinste, während Felix die Balkontür öffnete, um zu rauchen.
„Aber ich unterdrücke diesen Trieb mal", entschied Tommi und erhob sich vorsichtig, „soll ich uns Kaffee machen? Ich kenne mich mit Felix' Maschine aus."
„Ich würde Kaffee nehmen", antwortete Anna und lümmelte sich neben ihre beste Freundin auf das geräumige Sofa.
„Ich auch", sagte Lea, vertieft in den Anblick einer Frau, die gerade ihren Müll aus dem Fenster einer Hochhaussiedlung warf, „sag mal, ist das eigentlich normal, dass die sich so aufführen?"
„RTL verschlimmert immer alles. Wahrscheinlich ist das alles gescripted."
„Meinst du, die haben auch den Fliesentisch in das Wohnzimmer gestellt?"
„Könnte schon sein. Zutrauen würde ich es denen."
Tommi brachte den Kaffee und setzte sich wieder in den Sessel, Felix kam wieder herein.
„Geht's mir scheiße", lachte er hilflos und blickte zum Fernseher und den drei Gestalten, „sagt mal, hat hier eigentlich keiner einen vernünftigen Job?"
„Doch", Anna blickte auf die Uhr, „ich muss in zwei Stunden in der Schule sein. Hab erst zur vierten."
Felix schüttelte grinsend den Kopf, „die armen Kinder."
„Ich tue mir selber mehr Leid, die trampeln heute sicher richtig auf meinen Nerven herum. In der Stunde für soziales Lernen besprechen wir heute eine Eskalation auf dem Schulhof. Dennis hatte ein Messer mit und hat damit zwei Leute bedroht, deswegen war er ein paar Tage suspendiert und ist heute wieder da."
„Fuck", sagte Tommi und lachte ungläubig.
„Ich hab heute nichts zu tun", Lea gähnte, „also ich könnte etwas tun, aber ich muss nicht. Denke, dass das auch auf euch zutrifft."
„Muss gleich zum Zug."
„Schade, dass wir jetzt doch nicht miteinander geschlafen haben", sagte Lea frei heraus und lächelte Tommi an.
„Ja, finde ich auch", lachte er.
„Ich leg mich nochmal hin", Felix verschwand. Auch Anna schloss kurz die Augen. In einer Stunde musste sie spätestens los, wenn sie noch duschen wollte. Sie ließ den Abend vor ihrem inneren Auge Revue passieren und musste Schmunzeln. Es war schon viel zu lange her, dass sie mal wieder richtig Spaß gehabt hatte, Blödsinn geredet hatte, zu viel getrunken hatte. Sie war zufrieden. Ausgelaugt, verkatert, aber zufrieden. Sie kuschelte sich an ihre beste Freundin und döste ein.
Ein plötzliches Klopfen riss sie aus dem Schlaf. Tommi und Lea blickten verwirrt zur Tür.
„Ähm, Felix, da klopft einer", rief Tommi in Richtung Schlafzimmer. Ein Murren ertönte, dann erschien Felix, zerknittert, mit Kissenabdruck auf der Wange.
„Maann, wer klopft denn jetzt? Hat doch gar keiner geschellt...", er ging langsam zur Tür und öffnete.
„Ist das dein beschissener Ernst?", ertönte eine zornige Stimme und Anna zuckte zusammen. Das war Sven.
„Was denn, Alter?", hörte sie Felix Stimme müde fragen.
„Vor meiner Tür ist alles voller Müll! Flaschen, Dönerpapier, alles direkt vor meiner Tür!"
„Was weiß ich, wer das dahin gelegt hat", antwortete Felix, doch in Anna stieg plötzlich eine böse Erinnerung hoch. Scheiße. Sie und Lea, wie sie alles, was sie finden konnten, vor Svens Wohnungstür legten. Lea, wie sie mit Joghurtsauce die Tür beschmierte. Ein lachender Felix, der ihnen half.
„Du leugnest das also? Das ist Sachbeschädigung!", rief Sven laut.
„Schrei doch nicht so, Alter. Ist doch nur ein bisschen Müll."
„ICH mache das nicht weg! Wenn das gleich nicht weg ist, ist die Anzeige raus!"
„Dann verklag mich doch, du Lackaffe, viel Spaß dabei!", nun wurde auch Felix sauer, „wegen so einer Scheiße, Mann, hau einfach ab."
Die Tür wurde zugeschlagen. Felix kam ins Wohnzimmer und lächelte halb. „Das hatte ich ganz vergessen, ihr auch?"
Lea kugelte sich vor Lachen, Tommi und Anna schauten zerknirscht.
„Jap, voll vergessen", stimmte Anna Felix zu und sie tauschten einen Blick.

Weiber, oder? Gemischtes Hack - Felix Lobrecht x OCWo Geschichten leben. Entdecke jetzt