Mein Radiowecker sprang um Punkt sechs Uhr an, einer der schrecklichsten Lieder der Weltgeschichte sauste mir um die Ohren, bis ich mich endlich müde aufrappelte und den Wecker mit Gewalt zum schweigen brachte. Ich wollte einfach nicht mehr, es war jeden Tag dasselbe. Keine Motivation, kein Interesse an mein soziales Leben mehr. Ich zwang mich aus meinem warmen, weichen Bett und trottete ins Badezimmer, wo ich mich sorgfältig pflegte und anzog. Als ich mich dann im Spiegel betrachtete, kamen mir fast die Tränen. Warum tat ich das alles überhaupt noch? Ich schob den Ärmel meines schwarzen Lieblingspullis nach oben, strich mir sanft über meinen Arm, zuckte kurz zusammen, als ich eine frische Wunde berührte und schob den Ärmel vorsichtig wieder hinunter. Zum Glück hatte ich Mascara drauf, sonst würde ich wieder anfangen zu weinen. Im Zimmer packte ich meine Schultasche, nahm sogar zum Notfall meine neuen, frischen Klingen mit. Mit ihnen fühlte ich mich sicherer. Schnell öffnete ich die Tür, durchquerte den schmalen Flur und warf meine Tasche an die Tür. In der Küche machte ich mir einen Kakao, Essen wollte ich schon lange nichts mehr. Meine Handgelenke taten weh, mein Bauch, meine Hüfte. Nicht nur wegen den Schnitten. "Wieso bist du so laut? Sei verdammt nochmal leise, Miststück.", fauchte mein älterer Bruder Noah mich an. Er lag im Wohnzimmer auf der Couch, ein blondes Mädchen lag neben ihm. Noah war 22, er hatte fast jeden Tag ein neues Mädchen zu Gast, welches er jede Nacht lautstark verführte. Meinen Eltern machte es nichts aus. Nur, wenn ich mal eine Kleinigkeit falsch machte, schrien sie wieder herum. "Schon gut.", sagte ich leise und trank meinen Kakao leer. Die Tasse stellte ich ins Waschbecken, wobei mir ein Glas Marmelade auf den Boden fiel, welches ich aus Versehen umstieß. Sofort bückte ich mich und hob die Splitter auf, griff nach einem Lappen, als dann Noah aufstand und würtend auf mich zukam. Seine Neue schlief wie ein Stein, die Glückliche. Mein großer Bruder trat mir in den Rücken, so dass ich kopfüber in die übrigen Scherben flog, Marmelade kam mir in die Augen, in die Haare. Er zog mich fest an den Haaren hoch und verpasste mir direkt eine, so wie er es nannte, Respektschelle. "Entschuldige dich gefälligst.", sagte er ernst und mit solch' einer Wut und solch' einem Hass in seinen Augen, dass ich mir wieder die Tränen verdrücken musste. "Es tut mir leid, Noah, entschuldige.", flehte ich fast. Er ließ mich los, schmiss mich fast wieder zu Boden und sah mich verachtend an. "Ich geh aufs Klo. Wenn ich wiederkomme ist das sauber und du hast dich verpisst. Klar?" Ich nickte nur wortlos, versuchte nicht zu weinen und sammelte umgehend die restlichen Scherben auf. Die Marmelade war schnell beseitig. Umgehend lief ich aus dem Haus, nahm keine Schlüssel mit. Ich wollte nicht mehr zurück. Ich nahm einen Weg durch den Wald, wo mich niemand beobachten konnte. Es war nicht weit von unserer Wohnung entfernt, fünf Minuten Fußweg vielleicht. Erleichterung machte sich breit, als ich die Baumkronen von weiten erkannte. Als ich den ersten Baum berühren konnte, fühlte ich mich sicher. Ich ging etwas tiefer in den Wald hinein, es war meine einzige Zuflucht. Hier entfernte ich zunächst die restlichen Splitter, die mir im Gesicht und an den Händen steckten. Es floss Blut, leider nicht so viel, dass ich verbluten konnte. Ich zog ein Taschentuch aus meiner Hosentasche und tupfte vorsichtig die Stellen ab. Langsam kämte ich mir auch die Marmelade aus den Haaren, dann sah ich auf die Uhr. Acht. Ich kam wieder zu spät. Diesmal nicht, dachte ich dann, diesmal würde ich dort gar nicht aufkreuzen. Kurz sah ich mich um, ob noch jemand zufällig in der Nähe war. Niemand zu sehen. Ich lehnte mich gegen einen Baum, ließ mich an ihn herunter sinken und seufzte laut aus. In der Schule war die Situation nicht anders. Die ganzen Jungs aus meiner Stufe machten mich fertig. Es war vielleicht nur der Gruppenzwang, vielleicht mochten mich ja ein paar von ihnen, aber darauf konnte ich jetzt verzichten. Ich hatte das Gefühl, dass mich keiner dort richtig mochte. Nur die Englischlehrerin, aber sie musste jeden gleich behandeln, weswegen ich sie nicht mehr mitzählte. Es gab noch ein Mädchen in meiner Klasse, sie war schüchtern und sagte auch nicht viel. Ich saß neben ihr, wir unterhielten uns nur selten, aber ich hatte das Gefühl bei ihr, dass sie mich doch irgendwie als einzige mochte. Sie hat nämlich mal einen Lehrer gerufen, als mich die Jungs aus meiner Klasse in den Spind eingesperrt haben und ich dort fast erstrickt wäre. Ihren Namen wusste ich nicht, das war ja auch nicht nötig. Aber ich glaube, unsere Englischlehrerin nannte sie mal Harper. Die vier Jungs aus unserer Klasse, Max, Benjamin, Mike und Ian, hatten es besonders auf mich abgesehen. Der Rest ließ mich in Ruhe, weil der Rektor in unsere Klasse kam und mich verteidigt hatte, nachdem Mike und Ian mich gegen die ganze Schule aufgehetzt und peinliche Bilder von mir in meinem Enten-Pyjama aufgehangen haben. Stunden vergingen, in denen ich nachdachte. Mein Handy klingelte auf einmal, es waren über zwanzig Nachrichten. Verwundert öffnete ich diese und würde mein Handy am liebsten ganz weit weg werfen. "Na du Hure, Angst vor uns oder warum bist du nicht da? Fehlst uns, brauchen ein Spielzeug", schrieb mir Max. "Hoffe du hast nichts dagegen, dass ich mir deine Mathearbeit ausgeliehen habe? Meine Mum wird sich freuen ;-)", kam es von Benjamin. Und die restlichen Nachrichten waren genauso niederschmetternd. Es kamen sogar welche von Mädchen aus meiner Stufe, die mich anfingen zu beleidigen und meinten, sie hätten mich mit ihren Freund knutschen gesehen und mich nun abgrundtief hassten. Als ich dann die letzte Nachricht von Noah las, holte ich weit aus und warf mein Handy tiefer in den Wald hinein. "Miststück, kannst du gar nichts richtig machen? Meine süße Zuckermaus hat sich am Glas verletzt. Wenn du nachhause kommst wirst du sowas von was kassieren, Versagerin. Mum und Dad sind auch froh, wenn ich es endlich mal zuende bringe. Die haben überlegt dich wegzugeben. Mach dich auf was gefasst. Noah."
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Auf und davon {Casper Story} ✔️
FanfictionAuf und davon, das wollte Sophia schon immer. Als sie dann zufällig die Musik von Casper zu Ohren bekam, stand ihr Entschluss fest: Sie musste ihr schreckliches Leben endlich hinter sich lassen und verschwinden. Länger hätte sie es auch nicht ausgeh...