Kapitel 11

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"Wo willst du denn hin?", hörte ich Noahs tiefe Stimme in meinem Kopf, immer und immer wieder. Sie wollte nicht verschwinden, egal, wie sehr ich versuchte an etwas anderes zu denken. Eine Ohrfeige folgte, als ich ihm nicht meine volle Aufmerksamkeit schenkte. Mit eingedrückten Lippen und einer blutigen Nase, sah ich zu ihm auf. Tränen stießen mir in die Augen, doch ich wollte stark sein. Einmal. "Auf und davon.", sagte ich ernst, doch erst jetzt merkte ich, wie sehr ich zitterte. Auf meine Antwort folgte ein egoistisches Lachen, wovon er sich gar nicht mehr einkriegte. So lustig war mein elendiges Leben also? "Du hast mir gar nichts mehr zu sagen, verschwinde.", versuchte ich mich zu verteidigen, doch es stellte sich als einer meiner größten Fehler, die ich je gemacht habe, raus. Ehe ich mich versah, lag ich auf den weichen Waldboden. Ich landete ich einen Busch voller Brenneseln, was meinen großen Bruder anscheinend gar nicht wahrnahm, oder gar nicht erst interessierte. "Und wie ich das kann, du Miststück.", knurrte dieser von oben herab und fing an auf mich einzutreten. Die Schmerzen spürte ich nach einer Weile gar nicht mehr, das Blut, was auf den braunen Blätter verstreut wurde, nahm ich am Ende ebenfalls gar nicht mehr wahr. "Du kommst jetzt zurück nachhause.", fauchte er auf einmal. "Ich hab kein Zuhause mehr.", konterte ich mit meiner schwachen Stimme, doch daraufhin bekam ich mehr Hass zu spüren, als er vorhatte mir zu geben. "Du warst mein Zuhause, bist du abgehauen bist.", hörte ich eine weit entfernte Stimme zu mir sagen, bis ich mein Bewusstsein völlig verlor. 

Und heute bin ich aufgewacht, Augen auf gemacht. Sonnenstrahlen im Gesicht halten die Welt an, ich bin auf und davon, auf und davon, auf und davon. 

Weit kam ich damit nicht. Meine schweren Augen öffneten sich, als ich mich selbst wieder im Wald wiederfand. Das Blut war verschwunden, mein umgedrehter Arm tat nicht mehr weh. Die Stellen, wo die Brenneseln mich streiften, schmerzten auch nicht mehr. Vorsichtig stützte ich mich mit meinen dreckigen Händen ab, bis ich im Schneidersitz saß und der starke Wind durch meine langen Haare wehte. Ich wollte nicht aufstehen, ich wollte nicht denken. Ich wollte nicht mal dran denken, wie spät es war und ob die Anderen sich eventuell Sorgen machten. Dies alles versuchte ich auszublenden und stand schließlich auf meinen wackeligen Beinen. Vorsichtig sah ich mich noch einmal um, bevor mich wieder etwas überfiel. Gerade wollte ich auch gar nicht wissen, wie ich überhaupt aussah. Meine Narben scheinen offen zu sein, denn der schwarze Pulli wurde immer dunkler und riesige Flecken bildeten sich von innen. Doch dies störte mich gerade nicht besonders. Ich war dran gewöhnt. Paranoid drehte ich mich nochmal schnell um, doch kein Noah war in Sicht. Niemand war hier. Als die Regentropfen über die Blätter der Baumkronen huschten, bis sie auf meinen Kopf landeten, merkte ich erst, dass der Himmel weinte. Das sollte ich vielleicht auch tun. Ich hörte Wasser plätschern, hier in der Nähe war wohl ein Teich oder ein See. Müde schleppte ich meinen Körper durch den Wald, bis ich am Straßenrand ankam und so nass wurde, dass man denken konnte, ich wäre im See ertrunken und jetzt wieder auferstanden wäre. Meine Mascara tropfte auf meine Hose. Das Blut lief mir bis zu den Fingerspitzen. Ich wollte einfach nur noch schlafen. 


Auf und davon {Casper Story} ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt