Kapitel 16

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"Noah.", hauchte ich leise in den kühlen Abend, als ich die Hand auf meiner Schulter spürte. "Hast du mich vermisst? Oder was ist der Anlass deines Besuches?", fragte er. Ich spürte, wie sein krankes Grinsen sich über seine Wangen zog. Vorsichtig drehte ich mich um und hätte mich fast wieder übergeben, als ich den blutverschmierten Jungen vor mir sah, den ich einst meinen Bruder nannte.  "Nein.", kam es stark von mir. Ich hielt die Luft an, damit ich der Verwesung, die von ihm ausging, nicht völlig ausgesetzt war. "Ich hab auf dich gewartet, um ehrlich zu sein. Du warst einfach weg.", sprach mein älterer Bruder und kam mir so nahe, dass ich seinen Herzschlag hören konnte. "War auch gut so. Musste nicht mitbekommen, was du hier angerichtet hast.", sprach ich behutsam, aber dennoch ernst. Ben kam mir in den Sinn. Ich glaubte, dass es das letzte Mal war, dass ich ihn gesehen hatte. "Was willst du von mir?", fragte ich schließlich. Wieder tauchte dieses Grinsen bis zu seinen hohen Wangenknochen auf. "Mum und Dad sagten, dass sie dich vermissen würden.", meinte er trocken. "Auf einmal?" Verwirrung machte sich breit. Wollte er mich völlig verarschen? "Ich war ihnen schon immer egal. So wie dir.", fügte ich hinzu. "Oh nein, du warst mir schon immer wichtig. Nur warst du ein Miststück und hast mir mein komplettes Leben versaut. Ich lasse dich nicht auf freien Fuß, solange ich weiter mit der Qual leben muss. Du bist daran schuld, Sophia." Die Stimme meines Bruders hatte sich total geändert. Das Grizzly Lied kam mir in den Kopf. Ich beschloss es solange in meinem Kopf zu behalten, bis es vorbei war. Niemals hätte ich gedacht, dass mein Bruder im Stande wäre so etwas zutun. Er war zwar krank, ja. Aber sowas Krankes hätte ich ihm nicht zugetraut. "Du bist schuld, dass ich nicht normal leben kann.", hauchte er wieder. Man hörte raus, dass er innerlich am zerbrechen war. "Wieso das?", fragte ich unsicher und schluckte. Meine Hände wurden schwitzig, meine Beine fühlten sich an wie Pudding. Konnte er es nicht einfach hinter sich bringen? "Das weißt du genau.", knurrte er. "So wie Mum und Dad. Sie sind aber von selbst gegangen, weil sie die Wahrheit nicht ertragen konnten." Die zerbrechliche Stimme wurde immer leiser. "Von selbst?" - "Sie haben sich im Schlafzimmer erhängt. Ich hatte damit nichts mehr zutun. Sie wollten es wissen.", kam es von Noah. Sein Grinsen wurde wieder breiter. Er griff nach meiner Hand. "Nein, ich will es nicht sehen.", sagte ich ernst. Kalter Wind wehte durch meine Haare, suchte sich seinen Weg durch meine Kleidung. Ich fing an zu zittern. "Du willst aber die Wahrheit.", flüsterte er mir ins Ohr und zog mich die Straße bergab. Ich war gespannt, ob er in den Nachrichten war. Ob überhaupt irgendjemand hiervon wusste. Wahrscheinlich nicht. Die Straße war abgelegen. Unwichtig. Unnütz. "Wohin gehen wir?", fragte ich. Seine Hand war kalt. Er war eiskalt. "Mum und Dad."

Ich hätte nicht blinzeln sollen. Auf einmal waren wir auf dem alten Feldweg, wo wir beide damals immer gespielt hatten. Hier entstand unsere Beziehung zueinander. Unsere Fantasie. Mal bist du der Jäger, mal bist du der Bär. Er blieb stehen, ich tat es ihm gleich. Unsere Augen trafen sich. "Ich hatte eine scheiß Kindheit. Aber davon hast du nichts mitbekommen.", murmelte er. "Aber ich hab mich immer für dich zusammen gerissen." Ich ging ein paar Schritte nach vorn, sah mich in meiner Kindheit um. Als ich mich umdrehte, war er weg. Stille. Nur wieder dieser Wind. "Und jetzt musst du dich zusammenreißen."


Auf und davon {Casper Story} ✔️Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt