Der Junge, nein, vielmehr der junge Mann fing sich schnell und dem entsetzten Ausdruck auf seinem Gesicht wich einem neutralen, fast schon gelangweilten.
„Du dürftest nicht hier sein."
Sprach er mit dieser vertrauten Stimme.
Die mir gleichzeitig aber doch so fremd war.
Er warf mir noch einen Blick zu, drehte sich dann um und setzte sich in Bewegung. Als ich realisierte, dass er nicht vorhatte, mir zu helfen, löste ich mich aus meiner Schockstarre und sprang auf.
„Warte! Bitte Warte, du musst mir helfen!" rief ich panisch und rannte ihm hinterher.
Als ich ihn eingeholt hatte, ignorierte er mich.
„Bitte. Du musst mir helfen."
Er beschleunigte seine Schritte und stolpernd versuchte ich mit ihm Schritt zu halten.
„Bitte! Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich hier her gekommen bin!" Ich wurde etwas lauter, um meinen Worten Nachdruck zu verleihen, aber er ignorierte mich immer noch gekonnt und bückte sich unter einen Ast hinweg.
So langsam kochte die Wut in mir hoch. Ich wusste nicht, ob ich eine impulsive Person war oder ob ich schneller die Kontrolle verlor als andere, aber ich wusste gang genau, dass das Verhalten von diesem jungen Mann alles andere als unterstützend war.
Ich blieb vor dem Ast, unter den er sich eben hinweg gebückt hatte, stehen und ballte meine Hände zu Fäusten.
„Weißt du eigentlich wie es ist irgendwo aufzuwachen und sich an nichts erinnern zu können? Und man einfach nur nach Hause will? Warum hilfst du mir nicht? Warum? Ich bitte dich doch nur, mir den Weg aus diesem Wald zu zeigen!"
Erneut schallte ein Echo meiner Worte durch den Wald und er erstarrte. Mit klopfendem Herzen betrachtete ich seinen mir zugewandten Rücken.
War ich vielleicht zu weit gegangen? Immerhin kannte ich ihn nicht...
Oder vielleicht doch?Bevor ich mir noch mehr Gedanken machen konnte, drehte er sich ruckartig um. Sein Gesicht war wütend verzogen und mit zu Fäusten geballten Händen kam er auf mich zu.
„Du fragst mich, ob ich es weiß, wie es sich anfühlt ohne Erinnerungen irgendwo aufzuwachen? Verdammte Scheiße! Genau diesen Mist habe und mache ich immer noch durch!"
Ich erstarrte und wagte es noch nicht einmal mehr zu atmen. Er kam immer näher und bald war er so nah, dass ich jedes seiner Bartstoppeln erkennen konnte.
Er sprach mit gefährlich leiser Stimme weiter und sein warmer Atem, der auf meine Haut traf, jagte mir einen Schauer den Rücken herunter.
„Und warum ich dir nicht helfe? Vielleicht weil ich mir selbst nicht helfen kann..."Mit diesen Worten drehte er sich ruckartig um und lief wieder seinen Weg weiter. Ein paar Sekunden blieb ich noch wie angewurzelt stehen um das Gesagte zu verarbeiten.
Was hatte er damit gemeint, dass er genau das gleiche wie ich durchmacht?
Warum konnte er sich selbst nicht mehr helfen?Wie von selbst bewegten sich schließlich meine Füße in die Richtung in die der Braunhaarige verschwunden war. Mein Herz klopfte immer noch viel zu schnell und mein Gehirn lief auf Hochtouren, um das eben erlebte zu verstehen.
So schnell es ging folgte ich den Fußspuren im Schnee und lauschte dabei Geräusche, die mich daran erinnern konnten, dass ich gerade nicht vollkommen alleine war.
Doch außer meinem Atem und dem Knirschen des Schnees, das jedes Mal ertönte, wenn ich einen Schritt machte, gab es keine anderen Geräusche.Natürlich hätte ich auch einen anderen Weg einschlagen können, denn der junge Mann hatte sich klar ausgedrückt, dass er mit mir nichts zu tun haben wollte - Zumindest entnahm ich dies, seinen Worten - , aber irgendwas in mir befahl mir regelrecht ihm zu folgen, so als würde es mich zu ihm ziehen.
Und so kam es, dass ich, nicht viel später auf eine Lichtung taumelte und mich erneut ihm gegenüber befand. Er saß auf einem Baumstamm, einen Berg Äste vor sich liegend und sah nicht gerade erfreut über mein Auftauchen aus.
„Hab ich dir nicht gesagt, dass ich dir nicht helfen kann?" brummte er und senkte dann seinen Blick wieder auf die Äste.
„Ja, aber du hast mir nicht gesagt, dass ich nicht mit dir mitkommen darf." Erwiderte ich und nährte mich ihm.
Stöhnend verdrehte er seine Augen, riss sich die Mütze vom Kopf und fuhr sich einmal durch seine Haare.
Verwirrt und gleichzeitig auch fasziniert von dieser Reaktion starrte ich auf seine relativ langen Haare, die ihm nun verstrubbelt in die Stirn fielen.
Er bemerkte meinen Blick und fing an zu grinsen.
„Ich weiß, dass ich schön bin."
„Was?" fragte ich ihn verwirrt, merkte dann aber, dass er auf meinen Blick anspielte.
Ich räusperte mich und strich mir eine Haarsträhne hinter mein Ohr.
Unbehaglich schabte ich eine kleine Kuhle in den matschigen Schnee und sah mich auf der Lichtung um.
Wie es aussah, hatte er sich hier ein Lager aufgebaut.
Kleine Steine waren um eine schneefreie Stelle zu einem Kreis angelegt worden und Äste stapelten sich daneben zu einem großen Berg.
„Schläfst du hier?" fragte ich ihn überrascht, als ich eine dünne Decke auf dem Boden entdeckte.
„Nein, ich studiere die Temperaturdifferenz von Schnee mit und ohne Decke." Ich ignoriere den Sarkasmus in seiner Stimme und setzte mich neben ihn auf einen anderen Baumstumpf. „Ich heiße übrigens El." Versuchte ich ein Gespräch anzufangen, um mich von allen anderen Sachen abzulenken.
„Ich habe dich nicht nach deinem Namen gefragt." Brummte er leise und somit war der Versuch auf eine Unterhaltung beendet.Lange Zeit beobachtete ich, wie er die Äste nach einem mir unverständlichen Muster aussortierte. Dann wanderte mein Blick von seinen Händen, über seine Jeansjacke bis hin zu seinem Kopf hoch.
Und traf schließlich auf seine strahlend blauen Augen, die mich mit einem unergründlichen Ausdruck musterten.
Sekunden zogen sich bis ins Unendliche und alles schien in weiter Ferne zu rücken, als ich mich beinahe in diesen Augen verlor.
Und je mehr ich in diese blickte, desto mehr bekam ich das Gefühl, dass ich das nicht zum ersten Mal erlebte. Aber es wollte mir keine Erinnerung in den Sinn kommen.
Schließlich sah ich zur Seite und schüttelte meinen Kopf.„Was meintest du eigentlich damit, dass du mir nicht helfen kannst, weil du genau das gleiche durchmachst?"
Er hatte wieder mit dem Sortieren der Äste angefangen und sah auch nicht auf, als er mir antwortete:
„Genauso wie ich es gesagt habe."„Aber wie kannst du wissen, was mir genau wiederfahren ist? Kannst du mir zumindest den Weg aus dem Wald zeigen?" versuchte ich mein Glück weiter.
Seufzend sah er auf, wischte sich seine Hand an seiner Jeans ab und beugte sich zu mir hin.
„Woher soll ich genau wissen, was mit dir passiert ist, wenn ich nicht einmal weiß, was genau mir wiederfahren ist? Aber eins weiß ich mit Sicherheit: Es spielte eine Lichtung mitten in einer unbekannten Schneelandschaft und keinerlei Erinnerungen eine große Rolle."
Geschockt sah ich ihn an. Mein Gehirn realisierte, was das bedeutete, aber ich wollte es dennoch nicht wahrhaben.
„Also meinst du, dass du..."
„Das auch ich keine Erinnerungen mehr habe, genau." Vervollständigte er meinen Satz.
Die Umgebung fing sich an zu drehen und ich klammerte mich an den Baumstumpf.„Kennst du vielleicht einen Weg hieraus? Aus dieser Schneelandschaft? Meine Eltern werden sich sicherlich schon Sor..."
Weiter kam ich nicht, denn er sprang auf und unterbrach mich: „Wann kapierst du endlich, dass es keinen mehr gibt, der sich um einen Sorgen machen würde, oder dass es hier keinen Weg heraus gibt? Warum ich mir so sicher bin, dass es keinen gibt? Vielleicht hängt es damit zusammen, dass ich die letzten Tage, Wochen, Monate, ja vielleicht auch Jahre, wer weiß das schon so genau, damit verbracht habe, diesen verdammten Weg zu finden!"
Mit großen Augen starrte ich ihn an.
„Jahre...?" stotterte ich mit heiserer Stimme.Ich musste mich verhört haben. So musste es sein.
Oder es war ein Traum.
Das war definitiv die bessere Alternative.„Ja, hier hat man kein Zeitgefühl mehr, da der Tag-Nacht-Zyklus macht was es will. Hast du es jetzt endlich kapiert?"
Langsam schüttelte ich den Kopf und stand langsam von dem Baumstumpf auf, da er mir sonst zu bedrohlich erschien, wie er mit einem Ast in der Hand vor mir stand.
„Na dann, nochmal eine Extra-Einladung für dich: Herzlich Willkommen, El, im weißen Gefängnis."
Mit dem Stock zeigte er auf die Umgebung.
„Oder mit anderen Worten: Willkommen im Reich der Toten. Und so wie es aussieht bist du," Er tippte mit dem Stock gegen meine Brust, „nun ein mehr oder eher weniger glückliches Ehrenmitglied."(22.02.2015)
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Lost souls • Elounor
FanfictionEs sah wie im Himmel aus, aber fühlte sich wie in der Hölle an. • • • Was würdest du tun, wenn du ohne jegliche Erinnerungen an dein Leben in einer Schneelandschaft aufwachen würdest? Was würdest du tun, wenn du auf einen Jungen triffst, der genau d...