V i e r

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Louis.
Louis.

So als würde eine zweite Stimme immer und immer wieder seinen Namen wiederholen, geisterte er mir in meinem Kopf herum.

Louis.

So war also sein Name, oder zumindest das, woran er sich erinnern konnte.
Mein Blick schweifte von dem Schnee zu seinem in die Decke gehüllten Körper.
Die Flammen des Lagerfeuers warfen lange Schatten auf ihn und er bewegte immer noch seine Hand hin und her.

Also schlief er nicht.
Aber reden wollte er anscheinend auch nicht.
Langsam rutschte ich wieder etwas näher an das Feuer und streckte meine Hände nach der Wärme aus.

„Das wird dir nicht viel bringen."

Ich zuckte zusammen und warf Louis einen Blick zu.
Er lag immer noch auf der Seite, doch er stützte seinen Kopf auf seine Hände ab und beobachte mich mit seinen blauen Augen, die durch das flackernde Licht der Flammen immer wieder für kurze Momente wie Saphire aufleuchteten.

„Und warum nicht?" Meine Stimme klang seltsam heiser, als ich ihn weiterhin ansah.
Ein kleines Lächeln schlich sich auf sein Gesicht und schließlich rappelte er sich ganz auf.

„Weil dir die Wärme nichts mehr nützen wird. Schon vergessen, dass du tot bist?"

Ich schluckte, um das raue Gefühl in meiner Kehle los zu werden, und blickte zur Seite. Ich wollte nicht in dieses selbstgefällig grinsende Gesicht sehen, dass mir einreden wollte, dass ich nicht mehr lebte.

„Und warum bist du dir da so sicher?" Das Schlucken hatte nicht viel gebracht, denn meine Stimme klang immer noch ziemlich rau.
Ich hörte wie Louis aufseufzte und dann zum Reden ansetzte: „Seit wie vielen Stunden bist du geschätzt schon hier? Fünf, sieben, oder vielleicht sogar zehn? Das beschissene Zeitgefühl mal weggelassen, ist auf jeden Fall schon so viel Zeit vergangen, dass dir zumindest ein bisschen in diesem dünnen Mantel kalt sein müsste. Also was schlussfolgern wir daraus? Richtig: Kälte und Wärme kannst du genauso wenig wie ich richtig wahrnehmen. Das Feuer dient nur als Lichtquelle, alles andere kann dir egal sein."

Langsam ließ ich meine Hände in den Schnee fallen.
Er hatte Recht.
Zumindest in diesem Punkt.
Der Schnee fühlte sich kühl an, aber eher so, wie sich ein dünnes Stück Seide auf der Haut anfühlen sollte.
Und auch die Hitze, die das Lagerfeuer ausstrahlte, nahm ich eher wie durch eine dicke Schicht Watte wahr.

„Wenn wir doch anscheinend tot sind, warum schlägt dann noch unser Herz?" flüsterte ich, ließ meinen Blick aber gesenkt.

„Vielleicht weil es das einzige ist, das uns davor bewahrt, verrückt zu werden."

Es kehrte wieder eine unnatürliche Stille ein, die nur ab und zu durch das Knistern des Feuers durchbrochen wurde.
Anstatt in Panik zu geraten, was wahrscheinlich jeder, der noch alle Sinne beisammen hatte, tun würde, starrte ich ohne jegliches Gefühl in das kleine Meer aus Flammen. Gedankenverloren drehte ich dabei den Ring an meinem Finger hin und her.

„Zumindest musst du dir jetzt keine Gedanken mehr darüber machen, ob er der Richtige ist."

Langsam löste ich meinen Blick von den Flammen und blickte Louis verwirrt an. „Was?"

Er setzte sich wieder auf und zeigte auf den Ring. „Naja, oder ob sie die Richtige ist. Woher soll ich schon wissen wer der oder die Glückliche ist." Er zuckte mit den Schultern.

„Was zur Hölle meinst du?" Von Sekunde zu Sekunde wurde ich verwirrter. Was redete er da für einen Schwachsinn?

Erneut seufzte er und strich sich durch seine immer noch wirr abstehenden Haare, bevor er dann meinte: „Erkennst du etwa deinen eigenen Verlobungsring nicht wieder?"

Geschockt sah ich zu ihm, wie er sich genüsslich streckte und sich dann wieder hinlegte. Langsam wanderte mein Blick zu dem dünnen silbernen Reif an meinem Finger. Der Diamant, der vom Ring eingefasst wurde, glitzerte im Licht der Flammen. War das wirklich mein Verlobungsring?

Nein, das konnte nicht möglich sein. So etwas hätte ich nie vergessen können, oder?
Doch ich hatte auch alles andere vergessen, warum nicht also auch meine eigene Verlobung..?

„Sieh's doch positiv. Jetzt bleibt dir einiges erspart. Zum Beispiel die Kosten, die stressige Vorbereitung, grässliche Schwiegereltern, uneingeladene Gäste, Taubenkacke auf dem weißen Kleid, dass du vorm Altar stehen gelassen oder betrogen wirst und die Crashdiät, da so ungefähr jede Braut zwei Wochen vor der Hochzeit bemerkt, dass sie zu fett fürs Kleid ist."

Sein Tonfall klang locker, so als würde er über das Wetter reden, doch für mich bedeutete es so einiges mehr.
Ungläubig starrte ich ihn an und schüttelte dann den Kopf.

„Was denkst du eigentlich, was du damit erreichst, Louis? Denkst du, ich freue mich jetzt, dass ich vergessen habe, wer mein Verlobter ist und dass ich heiraten wollte, weil mir somit Taubenkacke erspart bleibt?"

Von einer inneren Wut und Verzweiflung angetrieben, sprang ich auf stieß dabei einen kleinen, von Louis sortierten Haufen Äste um.

„Bist du eigentlich immer so ein sarkastisches Arschloch oder warum scheint dir alles egal zu sein? Interessiert dich denn überhaupt nichts mehr?" Meine Stimme zitterte und blöderweise konnte man es sehr gut hören.

Bevor ich irgendetwas hinzufügen konnte, meldete sich Louis mit eiskalter Stimme zu Wort: „Sarkasmus ist vielleicht das einzige, was übrig bleibt, El. Und ich verlange, dass du die Äste wieder sortierst."

Immer noch fassungslos betrachtete ich ihn kopfschüttelnd.
Er saß dort vorm Lagerfeuer, die dünne Wolldecke hing über seiner Schulter und sein Mund war zu einem geraden Strich zusammen gepresst, während er den durcheinander gebrachten Haufen Äste anstarrte.
Und genau das machte mich so wütend.
Dieses Desinteresse.

„Mach deinen Scheiß doch selber, Wärme brauchen wir doch eh nicht mehr." Grummelte ich und drehte mich um.

„Wenn ich dir noch einen Tipp geben darf: Es ist dunkel, pass auf, wo du hinläufst, wobei das eigentlich auch egal ist, da du sowieso keine Schmerzen mehr spürst."

Bei seinen sarkastischen Worten zog ich scharf die Luft ein und stockte in meiner Bewegung. Er hatte aber recht. Es war dunkel und wenn ich seinem Gerede Glauben schenken durfte, konnten diese Nächte mal kürzer oder länger ausfallen. Und ich wollte nicht unbedingt im Dunkeln umherirren...

„Hast du jetzt auch noch vergessen, wie du deine Beine benutzen kannst?"

Für einen kurzen Moment schloss ich meine Augen und stopfte meine Hände wütend in meine Jackentasche. Dann setzte ich ohne eine Antwort an ihn meinen Weg von der Lichtung fort.
Denn die Genugtuung umzukehren, wollte ich ihm nicht geben.

Doch ich kam gerade mal bis zum ersten Baum, bis sich ein stechender Schmerz mitten in meine Brust bohrte und sich von dort aus rasend schnell durch meinen ganzen Körper fraß. Ich bemerkte kaum noch wie ich aufschrie und mit meiner Hand an meine Brust fasste.
Es drehte sich alles, ich wusste nicht mehr wo oben und unten, links und rechts war. Aber mein Gesicht lag auf irgendetwas, das sich wie ein Stück kalte Seide anfühlte.
Schnee.
Komisch, ich hatte gar nicht bemerkt, dass ich hingefallen war...
Meine Augen konnte ich nicht mehr offen halten und so blieb nur noch der brennend heiße Schmerz und das unnatürlich verzerrtes Piepen, sowie noch ein anderes Geräusch, das ich nicht direkt zuordnen konnte.
Bevor die allumfassende Schwärze schließlich auch meine Gedanken umhüllte wurde mir bewusst, dass Louis gelogen haben musste.

Denn er hatte gesagt, dass man keine Schmerzen mehr haben konnte und wenn dies hier keine Schmerzen mehr waren, was war es dann?

(13.03.2015)

Lost souls • ElounorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt