Z e h n

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„Findest du nicht auch, dass dieser Ast wie ein verschrumpelter Finger aussieht?"

Louis warf mir einen Blick zu, der mir mehr als deutlich machte, dass er keine Lust auf solch ein Gespräch hatte.
Aber ich ließ nicht locker.

„Oder doch eher wie eine Karotte?"

Ich streckte den Ast etwas von mir weg, damit ich ihn besser betrachten zu konnte.

„Das ist weder ein verschrumpelter Finger, noch eine Karotte, El. Das ist ein ganz normaler Buchenast. Und wenn du mal so nett wärst und ihn mir endlich geben könntest - Dankeschön."

Er nahm ihn mir eigenhändig aus meiner Hand und stapelte ihn auf seinen Haufen.
Genauso wie er es die ganze Zeit gemacht hatte.
Als ich hinter ihm auf die Lichtung getorkelt kam, hatte er schon angefangen ein paar verstreute Äste aufzusammeln und schließlich hielt ich dieses Nichtstun nicht mehr aus und hatte gefragt, ob ich ihm helfen konnte.

Ich griff nach dem letzten Ast - Es war Fichte, wie ich heute von Louis gelernt hatte - und reichte ihm diesen.
Als auch dieser dann endlich seinen Platz in der Astpyramide gefunden hatte, lehnte ich mich an den Baumstumpf an und starrte in die Glut des Lagerfeuers.
Da die Tageszeit wieder angefangen hatte, hatte Louis das Lagerfeuer ausbrennen gelassen, obwohl ich eingewandt hatte, dass man meine Idee vielleicht doch einmal versuchen könnte.
Als Louis dann wieder mit den verbrannten Pommes anfing, ließ ich das Thema fallen.

Schweigend ließ ich meinen Blick von der Glut bis hin in den Himmel wandern.
Babyblau.
Keine einzige Wolke.
Aber auch keine Sonne, die mir ins Gesicht schien.
Kein Vogel, der durch mein Blickfeld zog.
Kein Windhauch, der durch mein Haar stricht.

„Findest du es nicht auch komisch?" Meine Stimme kam einem Krächzen gleich, aber ich wandte nicht meinen Blick von dieser unendlichen blauen Weite ab.

„Was soll ich komisch finden?"

Louis klang gereizt, doch dass er mir überhaupt geantwortet hatte, sah ich schon so positiv, dass ich langsam weitersprach: „Schau in den Himmel. Es ist hell, aber wo ist die Sonne? Und wenn es keine Wolken gibt, wovon wird dann die Sonne verdeckt?"

Erneut erntete ich ein genervtes Seufzen seinerseits, bevor er antwortete: „El, wie oft muss ich dir noch sagen, dass es hier andere Spielregeln gelten? In dieser Welt muss es keine Sonne geben, damit es hell ist."

Ich schüttelte nur meinen Kopf und blickte zu Louis.
Er hatte sich an den Baumstamm neben mir angelehnt, die Beine durchgestreckt und in seinen Händen drehte er einen Ast hin und her.
Seine Augen waren unverwandt auf mich gerichtet.

„Glaubst du das wirklich, Louis? Ich denke nämlich, dass-"

Er überraschte mich, indem er plötzlich genau neben mir saß und meine rechte Hand in seine nahm.
Sofort hielt ich meine Luft an. Am Anfang war ich unfähig mich überhaupt zu bewegen, aber als er dann anfing mit meinen Fingern zu spielen, schaffte ich es, sie wegzuziehen.

„Nein, warte..." murmelte Louis und griff wieder nach meiner Hand.

Er strich mit seinem Zeigefinger über meine Finger hinweg bis hin zu dem kleinen goldenen Ring.

„Was machst du, Louis?" meine Stimme klang komischerweise fest, ganz anders, als ich mich fühlte.

Louis blickte wieder auf und unsere Augen trafen auf einander.

„Was ich mache? Ich zeige dir, wie diese Welt tickt. Schau in den Himmel."

Fragend sah ich ihn an, aber als er seine Augen verdrehte hob ich langsam meinen Kopf gen Himmel. Seine Stimme, die so dicht an meinem Ohr war, jagte mir einen Schauer über den Rücken.

Lost souls • ElounorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt