D r e i

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Für die ersten Sekunden war ich wie eingefroren.
Das konnte er unmöglich ernst meinen.
Nein, ganz sicher nicht.
So was war nicht möglich.
Oder?

Er räusperte sich, senkte dann den Stock und ließ sich wieder auf seinen Baumstumpf fallen.
Mit rasenden Gedanken beobachtete ich, wie er wieder mit dem Stöcke sortieren anfing.
Das war sicher ein Scherz, sonst könnte er nie so gelassen sein...
„Das ist doch nicht wahr, oder?" meine Stimme klang rau und ich musste mich räuspern bevor ich weitersprechen konnte. „Ich meine, das war doch ein Scherz, oder? Ach was rede ich da, natürlich war das ein Scherz, immerhin wäre alles andere Schwachsinnig..."
Ich konnte es nicht verhindern zu lachen und bemerkte, dass er mit gerunzelter Stirn zu mir aufsah.
„Natürlich war es ein Scherz. Immerhin ist hier überall Schnee. Und Schnee ist real."
murmelte ich zu mir selbst und blickte mich dann weiter um.
„Und schau doch! Hier sind überall Bäume." Ich ging auf den nächstbesten zu und legte meine Hand auf die Rinde.
„Schau doch, ich kann sie auch berühren, Tote können das doch nicht mehr, oder?" Erneut entfloh meiner Kehle ein unsicheres Lachen, während meine Hand die Rinde entlang fuhr.
Aber als ich den Blick von dem jungen Mann bemerkte, verstummte ich. Er sah mich mit gerunzelter Stirn an, die Lippen zu einem Strich zusammen gepresst und schüttelte dann den Kopf.
„Du kapierst es immer noch nicht, oder? Es ist nicht real."
„Aber was ist es dann? Wenn es nicht real ist, was sind wir dann?"
Er stand auf und kam auf mich zu. „Woher soll ich es denn wissen? Es kann eine Erinnerung, eine Einbildung oder einfach nur irgendein anderer shit sein, aber ich weiß, dass es nicht real ist."
„Aber... Aber ich kann den Baum doch berühren." Erwiderte ich stotternd und umklammerte den Baum mit meinen Händen, als könnte er mich vor allem retten.
„Halleluja und ich kann sogar den Schnee sehen."
Schon wieder stand er dicht vor mir. Ich spürte seinen warmen Atem auf meiner Haut und hielt automatisch die Luft an, als ich in seine strahlend blauen Augen sah.
„Also kapier es endlich und hör auf mich zu nerven."
Dann drehte er sich wieder um und ging zu seinen Stöcken zurück.
Ich jedoch umklammerte immer noch den Baum, denn er gab mir den Halt, den ich auf meinen wackeligen Beinen nicht mehr hatte.

Irgendwann hielt mich selbst der Baum nicht mehr aufrecht und ich sackte in den Schnee. Dort verweilte ich eine Zeit lang, starrte in die Reinheit des Schnees und hing meinen eigenen Gedanken nach.
Immer noch versuchte ich mich an irgendetwas zu erinnern, aber die gähnende Leere in meinem Kopf war geblieben.

„Wann wird es dunkel?" fragte ich irgendwann.
„Ich habe doch schon gesagt, dass es hier keine festen Tag- und Nachzeiten gibt." Kam die gebrummte Antwort.
Ich presste meine Lippen aufeinander und versuchte meine Tränen zu unterdrücken. Es gelang mir fast, nur eine einzige Träne löste sich aus meinem Augenwinkel und bahnte sich einen Weg meiner Wange herunter. Schnell wischte ich sie mir mit dem Ärmel meiner Jacke weg und warf dabei einen schnellen Blick in den Himmel, dessen strahlend blaue Farbe immer dunkler wurde.

„Ich glaube es wird dunkel." Meinte ich und warf einen unsicheren Blick zu ihm.
Sein Kopf hob sich schlagartig. „Das ist nicht gut. Die letzte Dunkelzeit ist doch noch gar nicht so lange her..."
Mit hektischen Bewegungen stapelte er die aussortierten Stöcker in dem kleinen Kreis zu einem kleinen Lagerfeuer an und mit wackeligen Beinen stand ich auf.
„Kann ich dir helfen?" Unsicher trat ich ein paar Schritte zu ihm heran. Seufzend warf er mir einen schnellen Blick zu, überlegte einen Moment, nickte dann aber.
„Reich mir mal bitte die restlichen Stöcker, die neben der Decke liegen."
Er zeigte auf einen kleinen Haufen Holz und nickend kam ich seinem Befehl nach.

Als er schließlich die Stöcker zu einen richtigen Lagerfeuer drapiert hatte, war der Himmel schon in ein düsteres Dunkelblau getaucht.
„Zünden wir das nun an?"
„Nein, das Lagerfeuer haben wir nur aus Spaß so angerichtet." Erwiderte er sarkastisch, aber als er meinen verletzten Blick bemerkte, seufzte er und zog etwas aus seiner Jackentasche.
„Dafür habe ich diesen kleinen Schatz."
Ich brauchte einen kleinen Augenblick bis ich das kleine rote Rechteck in seiner Hand identifizieren konnte.
„Ein Feuerzeug!" stieß ich überrascht aus und ging ein paar Schritte auf ihn zu, damit ich es besser erkennen konnte.
„Welch ein Wunder." Entgegnete er und hob seine Hände gen Himmel.
Ohne seine Worte zu beachten fragte ich: „Woher hast du das? War das vielleicht doch ein Scherz? Bitte, du musst mir helfen!"
Augenverdrehend ließ er seine Hände wieder neben seinen Oberkörper fallen und fischte einen erneuten Gegenstand aus seiner Tasche. In einem hohen Bogen warf es mir zu und ich fing es mit Müh und Not auf.
„So wie es aussieht, hat mein lebendiges und erinnerungsfähiges Ich nicht an den Tod durch Lungenkrebs gedacht. Wobei ich mir relativ sicher bin, dass ich nicht dadurch gestorben bin. Sie sind übrigens auch noch für einen Toten geeignet, habe ich schon ausprobiert."
Mein Blick senkte sich auf die Zigarettenschachtel und sofort überkam mich ein Gefühl, dass ich nicht direkt zu ordnen konnte.

Wenig später saßen wir beide nah an den Flammen des Lagerfeuers. Es war bereits vollkommen Dunkel geworden und kein einziger Stern erschien am Himmel. Der junge Mann bemerkte wohl meinen verwirrten Blick und beantwortete meine unausgesprochene Frage: „Es gibt keine Sterne hier. Wir sind nicht in der Welt der Lebenden und somit gibt es auch keine Sternenbilder, an die man sich orientieren könnte."
Überrascht über seine hilfsbereiten Worte schweifte mein Blick zu ihm.
Die orange roten Flammen warfen Schatten auf seine linke Körperhälfte, aber seine Augen funkelten inmitten der Schwärze wie Saphire.
„Aber wie ist das möglich? Ich kann mich nicht daran erinnern, gestorben zu sein..." Mitten im Satz stockte ich, denn erneut kamen die Bilder von den blonden Haaren, dem Lachen und den Zusammenstoß hoch.
Waren es Erinnerungsfetzten an meinen Tod?
Vor Übelkeit drehte sich mein Magen und meine Sicht verschwamm. Die Flammen nahm ich nur noch als einen wirren Tanz von eng umschlungenen Tanzpartnern wahr.
„Es gibt keine Erinnerungen mehr, El. Sie gehören zu deinem Leben, das dir genommen wurde."
Es entstand eine kleine Pause und bei seinen nächsten Worten erschien es mir fast so, als würden die Flammen sich noch wilder gegenseitig verschlingen.
„Und mit deinem Leben wurden auch deine Erinnerungen genommen. Genauso wie mir."

Lange Zeit blieb es still. Ich hörte nur auf meinen eigenen beschleunigten Atem und auf das Knacken der verbrennenden Äste, die sich beinahe wie Hilfeschrei anhörten.

Als ich wieder klarer sah, wendete ich mich wieder dem jungen Mann zu.
Dieser hatte sich bereits auf die Seite gelegt, die Decke fest um seine Schultern geschlungen und fuhr mit seinem rechten Zeigefinger im Schnee entlang.
„Was machst du da?" fragte ich ihn mit leiser Stimme. So leise, dass ich fast schon dachte, dass er mich nicht gehört hätte.
Doch nach ein paar weiteren Sekunden murmelte er: „Ich schreibe."
„Warum?" Und entgegen all meinen Erwartungen antwortete er mir erneut:
„Damit ich mich nicht vergesse."
Danach stoppte er seinen Finger und drehte sich demonstrativ auf die andere Seite. Sofort war mir klar, dass er an keinem Gespräch mehr interessiert war und biss mir auf die Lippe. Neugierig starrte ich auf die Stelle im Schnee, doch erkennen konnte ich nichts.
Deswegen beugte ich mich vorsichtig vor, um das geschriebene Wort im Schnee erkennen zu können.
Louis.


(1.03.2015)

Lost souls • ElounorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt