A c h t

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Danach stand Louis wieder auf und lief von der Lichtung. Im Vorbeigehen rief er über seine Schulter, dass ich hier bleiben sollte, bevor ich noch gegen einen Baum lief.
Ich antwortete nichts, stattdessen schnappte ich mir seine Decke und setzte mich darin eingekuschelt vor das Feuer.
Wohin Louis hingegangen war, wusste ich nicht.
Und es machte auch überhaupt keinen Sinn, darüber nachzudenken, da ich so oder so keine passende Möglichkeit finden würde.

Ich drehte den kleinen Ring um meinen Finger und fuhr über den kleinen eingesetzten Diamanten. Durch die Brechung des Lichts funkelte er immer wieder auf und schweigend betrachtete ich dieses Schauspiel.
Wer war es, der mir diesen Ring geschenkt hatte?
Welche Momente hatte ich zusammen mit meinem Heiratsantrag vergessen?
War die Hochzeit schon geplant?
Hatte ich schon ein Hochzeitskleid gekauft, das nun unbenutzt in einem Schrank hing?
Hatten wir schon die Einladungskarten verschickt?
Und wenn ich wirklich gestorben war, kamen die Gäste nun nicht mehr zu meiner Hochzeit sondern zu meiner Beerdigung?
Wurde die Hochzeitsrede nun zu einer Trauerrede umgeschrieben?

All diese Gedanken brachten mich dazu, all das wieder zu fühlen, dass ich verdrängt hatte.
Es fühlte sich so an, als hätte ich einen Damm gebaut, um einen kleinen Bach auszusperren.
Aber mit jedem weiteren Gedanken an all die verlorenen Erinnerungen bekam dieser Damm Risse.

Zittrig ballte ich meine Hände zu einer Faust, schloss den Verlobungsring damit in meiner Hand ein.

Wer trauerte um mich?
Wer stand vielleicht jetzt gerade an meinem Grab?
Und wer weinte jetzt um mich? Um mich und um die verlorene Zukunft?
Wer weinte jetzt, weil er sich an all die Momente mit mir erinnerte?
Wer erinnerte sich jetzt gerade an die Momente, die für mich selbst verloren waren?

Vielleicht keiner. Vielleicht waren nicht nur meine Erinnerungen an mein Leben ausgelöscht.
Vielleicht konnte sich keiner mehr an mich erinnern.
Vielleicht waren diese Momente für immer verloren.
Vielleicht wurde ich ersetzt.
Aber ich würde nie die Chance bekommen, dies herauszufinden.
Ich würde nie wissen, was ich für meine Zukunft geplant hatte.
Eine Zukunft, die ich nun nicht mehr hatte.

Und genau diese Erkenntnis brachte meinen Damm vollkommen zum Einstürzen.
Und der Bach hatte sich zu einem reißenden Fluss angestaut, der nun eiskalt durch meinen ganzen Körper flutete.

Wimmernd schlug ich meine Hände vor meinem Mund, in der Hoffnung, nur ein kleines bisschen den seelischen Schmerz zu lindern.

Doch weiterhin durchfluteten mich all die Emotionen, all die Gefühle, die ich seit meinem Aufwachen ausschließen wollte.
Und ich ertrank in ihnen, konnte mich kaum noch bewegen und versuchte verzweifelt nach Luft zu schnappen.

Immer mehr wurde mir klar, dass ich alles verloren hatte, das mich ausmachte.
Wie alt war ich?
Irgendetwas mit zwanzig.
Zwanzig Jahre.
Das waren mehrere tausend Tage.
Mehrere hunderttausend Stunden.
Mehrere Millionen Minuten.
Und noch viel mehr Sekunden.
Jede Sekunde meines Lebens wurde mir gestohlen.
Nichts war mir geblieben.
War damit nicht mein ganzes Leben sinnlos gewesen?

Verzweifelt drückte ich meine Hände vor meinem Mund, um das Wimmern zu unterdrücken.
Doch es schmerzte so sehr. Es war ein seelischer Schmerz, der mich geradezu von innen her auffraß, sich immer weiter einen Weg zu meinem Herzen erkämpfte.
Doch meine Gedanken, der Auslöser für dies alles, ließen sich nicht ausschalten.

In welcher Sekunde meines Lebens hatte ich das gelernt, das ich nun noch wusste?
Wann hatte ich zum ersten Mal ein Feuerzeug, eine Pommes oder ein Tattoo gesehen?

All diese Gefühle wollten aus mir herausbrechen.
Der reißende Strom in meinem Inneren würde mich sonst umbringen.
Und so ließ es zu, dass erst eine, dann zwei und dann immer mehr Tränen meine Wange hinabrannen.
Der kleine Bach wurde immer mehr zu einem Fluss und jede einzelne Träne, die in den Schnee fiel, stand für eine Sekunde meines verlorenen Lebens.

(30.03.2015)

Lost souls • ElounorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt