S e c h s

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Weder ruhte ich mich aus, noch malte ich Smileys in den Schnee. Für beides fand ich nicht die Ruhe. Stattdessen starrte ich wieder einmal in die Flammen des Lagerfeuers und dachte nach. Meine Gedanken rasten und es fühlte sich so an, als würden sie immer wieder stolpern und sich in einander verheddern, sodass ich keine Antworten auf meine vielen Fragen fand.
Es war sowieso schon ein Wunder, warum mein Gehirn nicht schon längst den Geist aufgegeben hatte, immerhin war ziemlich viel passiert an einem Tag.
Oder wie lange ich auch schon hier war.
Mein Blick löste sich von den Flammen und wanderte zu dem Stapel mit den Ästen.
Warum war Louis so in ihnen vernarrt?
Vielleicht war er verrückt, flüsterte eine Stimme in meinem Kopf.
Oder man suchte sich eine Beschäftigung, damit man im Laufe der Zeit nicht verrückt wurde...
Ich schüttelte meinen Kopf, um alle Gedanken an Louis oder an die Äste zu verscheuchen, was mir aber kläglich misslang, da ich mir immer wieder die Frage stellte, wohin er gegangen war.
Wie automatisch blickte ich zu der Stelle, wo Louis verschwunden war.
Wegen der Dunkelheit konnte ich nicht viel erkennen, deswegen schüttelte ich wieder einmal meinen Kopf und rappelte mich dann auf. Die Decke, die um meine Schultern gelegen hatte, faltete ich fein säuberlich zusammen und legte sie dann auf dem Baumstumpf, nicht ohne vorher einen großen Bogen um die Äste gemacht zu haben.

Als ich mich auf den Baumstumpf daneben sinken ließ, fiel mir ein Stück Stoff, das halb im Schatten der Bäume lag, auf. Ich kniff leicht meine Augen zusammen, um es besser fixieren zu können und streckte dann meinen Arm danach aus.
Schon als ich den Stoff berührte, war mir klar, was es war.
Louis Jeansjacke.
Langsam ließ ich meine Hand über den abgewetzten Stoff fahren und stoppte bei dem Fellkragen.
Die ganze Jacke war abgenutzt und hatte hier und da kleine Löcher, doch trotzdem hatte sie einen ganz eigenen Charakter.
Und das faszinierte mich.

„Komm bloß nicht auf die Idee sie anzuziehen."
Vor Schreck ließ ich die Jacke wieder in den Schnee fallen und drehte mich zu Louis um.
Er stand neben dem Lagerfeuer, warf mir wütende Blicke zu und hielt nichts anderes als weitere Stöcker in seinen Händen.
„Das hatte ich nicht vor. Wirklich." Meinte ich und stand auf.
Ohne mir eine Antwort zu geben, lief er an mir vorbei, ließ die Äste vor dem Baumstumpf fallen und bückte sich dann nach seiner Jacke.
„Fass nie wieder, ich betone das nie wieder, meine Sachen an, okay?"
„Okay."
Er schlüpfte in die Jacke und sofort entspannten sich seine Gesichtszüge etwas.
„Du hast also Äste gesammelt?" fragte ich, in der Hoffnung, irgendwie in ein Gespräch zu kommen und zeigte dabei auf die am Boden liegenden Äste.
„Und du hast keine Smileys gemalt. Schade eigentlich. Ein bisschen Kunst in meinem gescheiten Heim hätte gerade so noch gefehlt." Spottete er und ging vor den Ästen in die Hocke.
"Soll ich dem Herr dann noch ein paar Kunstwerke malen?"
Vielleicht hatte Louis ja Recht, dass Sarkasmus das einzige war, das blieb.
„Nein, die werte Dame könnte sich auch dazu bequemen, beim Sortieren zu helfen, solange sie genügend Gehirnzellen hat, die sie nutzen kann, ohne irgendetwas zu zerstören."
Diese, fast beleidigte Aussage, wurde von einem Grinsen seinerseits leicht abgeschwächt.
Hin und hergerissen, ob ich ihm nun helfen sollte oder nicht, blickte ich von den Ästen zu Louis und dann wieder zurück.
Einerseits wollte ich ihm nicht zeigen, dass er so mit mir reden konnte, anderseits durfte ich hier bei ihm bleiben und würde sonst vor Langerweile sterben.
Schließlich entschied ich mich, ihm zu helfen.
Schlimmer konnte es ja nicht werden.

Schnell fand ich jedoch heraus, dass Louis ein Faible für die Perfektion im Äste Sortieren hatte.
So war alles, was ich machte, anscheinend falsch.
Ich sortierte die falschen Größen zu einander, oder wählte den falschen Braunton, wobei ich jedoch noch nicht einmal wusste, nach was für einem System Louis vorging.

„Reich mir mal das Buchenholz an." Meinte Louis und streckte seine Hand aus.
Hilfesuchend betrachtete ich die vielen unterschiedlichen Äste vor mir, die irgendwie doch alle gleich aussahen.
Was zur Hölle war Buchenholz?
Kurzerhand wählte ich ein Ast aus und reichte es ihm.
Ein genervter Seufzer seinerseits bestätigte mir, dass ich nicht das Richtige gewählt hatte.
„Ich sagte Buche, nicht die Fichte."
„Woher soll ich das denn wissen? Schon vergessen, dass ich keine Erinnerungen mehr habe?" murmelte ich leicht beleidigt und legte die Fichte wieder weg.
„Das ist Grundwissen, El. Das ist die Buche."
Er tippte auf den Ast, der gleich neben der Fichte lag und fast genauso aussah.
„Grundwissen also." Murmelte ich.
Louis warf mir einen Blick aus seinen blauen Augen zu, stapelte das Fichtenholz in seiner Mauer aus Ästen ein und nickte dabei bestätigend.
„Genau, Grundwissen. Wie schön, dass du akzeptierst, dass du wohl nicht die beste Ausbildung genossen hast. Aber keine Sorge, zum Glück fällt das hier nicht ganz so sehr auf."

Minuten oder Stunden später war Louis endlich fertig und voller Stolz starrte er sein Werk an.
„Schau, jetzt reicht es hoffentlich für die ganze Dunkelzeit."
Ich nickte und betrachtete ihn dann im Schein der Flammen.
Seine Jeansjacke hatte er bis zu den Ellenbogen hochgekrempelt, sodass ich die schwarze Tinte auf seinem Arm erkennen konnte.
Sie schlängelten sich um beide Handgelenke und über beide Arme hinweg.
Fasziniert davon rückte ich etwas näher zu ihm, um es besser erkennen zu können.
Es waren Tattoos.
„Ist das ein Vogel?" fragte ich ihn neugierig, wobei es mir vollkommen egal war, ob er eine blöde Antwort gab oder nicht.
„Was?" Er schien sichtlich verwirrt und betrachtete mich von der Seite.
"Als Tattoo auf deinem Arm." Mit meinem rechten Zeigefinger zeigte ich auf das Wirrwarr aus gemaltem Schwarz. Sein Blick senkte sich auf das Tattoo und dann zuckte er mit den Schultern.
„sieht wohl so aus."
„Und was hat es zu bedeuten?"
„Woher soll ich das denn wissen?"
„Immerhin hast du es dir ja stechen gelassen." Entgegnete ich hartnäckend und erntete dafür erneut einen genervten Seufzer.
„Zufälligerweise kann ich mich aber nicht mehr daran erinnern, dass je eine Nadel meine Haut durchstochen hat. Oder kannst du dich etwa noch an den Grund für dein Tattoo erinnern?"
Jetzt war ich diejenige, die ihn verwirrt ansah. Was für ein Tattoo?
Er erriet meine unausgesprochene Frage und nickte mit seinem Kopf in die Richtung meines Handgelenks.
Langsam hob ich meine Hand und drehte das Handgelenk in meine Richtung.
„Die Erinnerungen verschönern das Leben, El, aber vielleicht ist gerade das Vergessen das, was es erträglich macht."
Auf meinem Handgelenk war ein zierlicher Pfeil mit Tinte verewigt worden.

(25.03.2015 btw: Genau in 6 Monaten werde ich sie sehen *-*)

Lost souls • ElounorWo Geschichten leben. Entdecke jetzt