Kapitel 18

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Yi Ling würde es nicht unbedingt als ein Ritual bezeichnen, von Lan Zhan geweckt zu werden, aber da er neben Wen Ning der einzige war, bei dem er nicht fürchten musste ihn in einer Phase der geistigen Desorientierung Schaden zuzufügen, hatte dieser es sich angeeignet, eben genau das zu tun.

Es war für Yi Ling ebenso nicht ungewöhnlich, dass er selten seinen Weg ins Bett fand und schlicht dort einschlief, wo er zuletzt zugebracht hatte.

In letzter Zeit, war dieser Platz, über seinen Notizen.

Mit einem müden Brummen rieb sich Yi Ling die Augen und setzte sich auf, wo er seinen Kopf sofort auf die Hand seines rechten Armes legte, den er auf dem Kang Tisch abgestützt hielt.

Er roch das herbe Aroma von rotem Tee, und scharf gewürztem Hirse Porridge.

Zunächst stand Lan Zhan mit seinem Tablett, auf dem sich sein Frühstück befand, weiterhin nur neben dem Tisch, bis Yi Ling verstand und rasch das Chaos darauf etwas zur Seite schob, damit dieser es abstellen konnte.

Dann setzte sich dieser ihm gegenüber und Yi Ling überkam eine ungewollte Melancholie bei dem Gedanken, dass es das letzte Mal sein könnte, das sie hier oder auch irgendwo anders zusammen saßen.

Es war ernüchternd, wie sehr er sich doch schon an die Präsens des anderen gewöhnt hatte.

„Yi Ling..."

„Lan Zhan...", kam es zur selben Zeit über ihre Lippen, das ein kurzer Moment des schweigenden Anschauens verstrich.

Lan Zhan's Aufmerksamkeit legte sich auf das oberste, der schlampig zusammengeschobenen Blätter auf dem Tisch, doch war Yi Ling mit seinem Porridge beschäftigt, um dem mehr beizumessen, als das er seine Unordnung nicht gut hieß.

„Du hast einen Weg gefunden?" Yi Ling's Augenbrauen rutschten in Erkenntnis über dessen Worte nach oben.

Er zog das verräterische Papier eilig zu sich und versuchte es mit gespielter Nonchalance.

„Ah, Lan Zhan, spionieren gehört sich nicht. Es ist nur eine Idee, noch nicht ausgereift."

Dieser sagte nichts zu seiner Reaktion, oder zu dem was er hatte überfliegen können, doch gab es Yi Ling keineswegs das Gefühl, dass er die Kurve noch einmal gekriegt hätte.

Und um weiter davon abzulenken, setzte er fort das vorzubringen, was er vorhin gedacht hatte endlich anzusprechen.

„Was ich eigentlich sagen wollte." Er räusperte sich unnötig und zog etwas unter den Zetteln hervor, das er diesem schließlich zuschob.

„Dein Pass für den Heimweg. Oder wohin auch immer du gehen willst.", erklärte er ihm auf dessen fragenden Blick, über den dargebotenen Talisman.

„Ein Transport Talisman. Er wird dich an jeden Ort bringen, solange du schon einmal dort gewesen bist, und dich an einen bestimmten Punkt erinnern kannst.", fuhr er über dessen prüfende Mine weiter fort, doch zeigte sich auch dann keine aussagekräftige Regung in dessen Gesicht.

„Warum?", war alles was dieser darauf von sich gab und Yi Ling grinste hoffentlich überzeugend genug.

„Weil dein Soll erfüllt ist, oder nicht? Du hast mir zwei Mal aus einer Situation geholfen, die mein Leben in Gefahr brachte und damit ist deine Schuldigkeit getan. Nichts bindet dich mehr an mich." Er goss sich etwas Tee in eine Schale, fiel es ihm etwas schwer Lan Zhan's Blick weiterhin zu erwidern.

Dieser schwieg erneut und es machte es Yi Ling nur schwieriger seine Unruhe zu überspielen, das er das tat was er immer tat, wenn er nicht so recht weiter wusste.

Er redete drauf los.

„Sag nicht, dass du nicht mitgezählt hättest." Er lachte etwas auf. „Wer weiß was passiert wäre, hättest du mich, bei diesen Angriffen im Wald, nicht rechtzeitig finden können. Und die Sache mit dem veränderten Yin. Hätte der große Lan xiān shī nicht eingegriffen, hätte es womöglich nicht nur für mich unangenehm enden können. Also sehe es als einen verdienten Gewinn an, hm? Niemand wird dich aufhalten, wenn du deine Reise wieder aufnimmst. Letztendlich ist es nicht deine Aufgabe, das Problem mit dem See zu lösen. Du kannst eh nicht viel tun, also..." Der letzte Hinweis, war unfair, das wusste Yi Ling, aber so lange es seinem Zweck dienlich sein würde, Lan Zhan wieder auf den Weg zu schicken.

Dessen Augen verengten sich in einer Geste des Zweifelns. „Und du kannst mehr ausrichten?" Es war eine nicht unbegründete Frage, doch grinste Yi Ling stur weiter durch seinen Plot.

„Ich bin ein unterschätztes Genie. Ich bin mir sicher, eine Lösung liefern zu können. Aber wie schon gesagt, hat dies nichts mehr mit dir zu tun. Somit trennen sich unsere Wege hiermit wieder." Er schob ihm den Talisman noch etwas nachdrücklicher entgegen.

„Unsere kleine, gemeinsame Reise war unterhaltsam, aber ich gebe auch zu, dass mir das Alleinsein besser bekommt. Niemand der einem ständig den Spaß madig macht." Lan Zhan musste nicht wissen, dass er durch dessen Begleitung so viel mehr Unterhaltung gehabt hatte.

Ihm ungewohnt das Herz etwas eifriger schlug, jemanden an seiner Seite zu haben, der es mit ihm aufnehmen, der mit ihm mithalten konnte.

Aber dies waren nichts weiter als unangebrachte Sentimentalitäten. Nichts davon war von Nutzen, bei dem was er geplant hatte.

Sollte er das ganze tatsächlich richten können und es überleben, würde er sich schnell wieder an sein altes Muster gewöhnen. Kein Grund etwas nachzuhängen, das früher oder später eh in einer Trennung ihrer Welten und Leben enden würde.

„Ich werde den anderen sagen, dass dich eine familiäre Situation hat gehen lassen, wenn du dich nicht extra von ihnen verabschieden willst. Und keine Sorge, ich werde kein schlechtes Licht auf dich fallen lassen, wenn es das ist, was du befürchtest." Das Lächeln hing wie festgesetzt in seinem Gesicht, in der Hoffnung, dass es die nötige Ungerührtheit vermittelte, die dieser Abschied von seiner Seite her vermitteln sollte.

„Ich werde gehen." Nur diese drei Worte und sein Lächeln schwankte einen kurzen, hoffentlich unbemerkten, Moment, eingefasst von einem unangenehmen Stechen in seiner Brust, das er schnell dabei war es zu kaschieren, während sich Lan Zhan aufrichtete und den Talisman aufgriff.

„Tu das." Yi Ling blieb sitzen, lümmelte sich sogar noch etwas zur Seite, in versuchter Gleichgültigkeit zu diesem Abschied.

Lan Zhan schaute noch einen inquirierenden Augenblick auf ihn, bevor er sich umwandte, die Tür anstrebte.

„Tue nichts Unüberlegtes." Mit dieser letzten Ermahnung, war er schließlich aus der Hütte und somit auch aus Yi Ling's Leben verschwunden.

Nicht einmal ein Wort des Abschiedes war gefallen und er fühlte sich beklemmend abgehakt.

Aber es war auch besser so.

Er war nie ein Freund von sentimentalen Gerede und Gesten gewesen und Lan Zhan sicherlich heil froh, endlich wieder seine Freiheit zurück zu haben.

So, wie auch er froh darüber sein sollte.

Froh darüber, wie einfach sich dieser hatte überzeugen lassen, zu gehen.


*

Er hätte es ahnen sollen, das Yi Ling versuchen würde, die Bürde des Berges allein tragen zu wollen. Es hatte ihn sogar schon etwas verwundert, dass dieser ihn so lange hatte mitwirken lassen. Doch deutete er dessen Worte, das sich ihre Wege genau jetzt trennen sollten, mit einer Ahnung, dass dieser etwas vor hatte, von dem er nicht wollte das ein Außenseiter wie er, mit hineingezogen wurde.

Zweifelsohne etwas Gefährliches.

Und so wie er ihn über die letzten Monate hatte kennenlernen können, war er sich ebenso sicher, dass dieser sich nicht umstimmen ließe, in seinem märtyrerischen Vorhaben. Egal, wie viel Hilfe man ihm auch anbieten mochte.

Also hatte er nichts weiter gesagt.

Ihm war, im Bezug auf die Materie, etwas eingekommen, als er eingehender über den Vorfall nachdachte, die Yi Ling zwischen die Fronten der zwei Yin-Energien gebracht hatte.

Das Yin das er hatte zurücktreiben müssen, um ihn aus dessen Hütte holen zu können. Es war nicht das von Yi Ling gewesen, das nach ihm ausschlug.

Er kannte dessen ganz bestimmte Yin Signatur, doch nahm er damals an, dass er sich in dieser Annahme wohl überschätzt hatte.

Nun, wo er wusste, dass es zwei verschiedene Energien waren, erklärte sich auch, warum es sich zu jener Zeit so seltsam befremdlich anfühlte.

Doch war die Frage, warum es ihm dennoch möglich gewesen war Yi Ling dort herauszuholen, ohne selbst Schaden genommen zu haben?

Nach reichlicher Überlegung, hatte sich eine Vermutung dazu aufgebaut.

Eine Theorie, die er eigentlich zusammen mit Yi Ling hatte testen wollen.

Doch nun musste er es wohl allein in die Hand nehmen, weswegen ihn seine nächsten Schritte zum See führten.

Er brauchte etwas von dem veränderten Yin für seinen Versuch.

Er traf auf seinem Weg auf Wen Ning, der sich vor ihm immer etwas zu tief verbeugte, bevor dieser ihn fragend ansah, doch nicht den rechten Mut aufbringen konnte, ihn auch anzusprechen.

Wen Ning war die ungewöhnlichste Xiōng shī die ihm je begegnet war und es erinnerte ihn daran, dass er noch immer nicht wusste, wie dieser dazu hatte werden können.

„Wēn Qiónglín. Wie ist die Situation am See?" Unter seinem üblichen Stottern, erklärte man ihm, das soweit alles noch ruhig wäre, aber auch ihm war anzumerken, dass er nicht darauf vertraute, das dem noch lange so bleiben würde.

„Ich habe ein Anliegen und wäre für eine helfende Hand dankbar." Wen Ning schaute ihn an, als könne er nicht glauben, dass er ihn tatsächlich um etwas gebeten habe, doch straffte er sich recht schnell wieder und nickte resolut. „Bei was auch immer ich behilflich sein kann."



Es war darauf, dass sie sich am Ufer des Sees wiederfanden. Er brauchte etwas von dem Yin in reiner Form. Er wusste nun, dass es sich, nachdem sein Wirt gestorben war, auf die Suche nach einem neuen machte, und genau diesen Prozess musste er abpassen. Er brauchte somit eines der infizierten Lebewesen aus dem See.

Je größer, desto besser.

„Wēn Qiónglín, was ist die größte Lebensform in diesem Gewässer, ausgeschlossen des Sonnenbrüters?" Man schaute ihn einen Moment fragend an, bevor dieser sich zu besinnen schien und etwas nachdachte.

„Wáwayú (chin. Riesensalamander), würde ich sagen, allerdings ist es schwierig sie zu fangen, da sie sich recht gut verstecken. Jedoch ist alles was infiziert wurde, um einiges aggressiver und dadurch leichter zu ködern. Ich denke aber, das wir dafür auf den See hinaus müssten, dort wo es tiefer ist." Wangji nickte verstehend. Ohne ein Boot wäre es nicht möglich und eines hier her und hier herunter zu bekommen wäre recht aufwendig. Zumal es nicht einmal gesagt war, das es im Dorf ein Boot gäbe. Die Bewohner hätten dafür in den Bergen eh keine Verwendung.

Ihm kam ein Gedanke. Vielleicht könnten ihnen die Waldseelen damit aushelfen. Es brauchte am Ende nicht mehr, als etwas das sie sicher über das Wasser bringen würde und wieder zurück.



Man hatte sich kooperativ gezeigt auf seine Bitte, etwas worüber er mehr als erleichtert war, sparte es ihnen Zeit und Mühe. Ihr Behelfs-Boot war am Ende mehr ein Floß aus robusten Bambus, doch erfüllte es seinen Zweck alle mal.

Als Köder hatte Wen Ning ein paar Hühnerkadaver aus dem Dorf organisiert.

Die Konzentration von Yin war allgegenwärtig, je weiter sie auf den See hinaustrieben und er sich selbst davon überzeugen konnte, was Wen Ning ihm vorhin gesagt hatte, trieb ein dichter Schwarm von infizierten Fischen lauernd um ihr Floß herum. Nicht nur einmal mussten sie einem besonders angriffslustigen Exemplar ausweichen, das auf das Floß gesprungen war und gierig nach ihnen schnappte.

Wen Ning war recht schnell diese zu erlegen und als weitere Köder zu behalten. Nun wo sie wussten, das Yi Ling's yuàn qì eine Schwäche für diese Kreaturen bedeutete, und etwas davon auch durch Wen Ning's Körper pulsierte, hatte dieser keine Schwierigkeiten mit dieser Aufgabe.



Die Sonne war gut ein Viertel weitergerückt, seit sie sich auf die Suche nach einem der Riesensalamander gemacht hatten, bis ihnen schließlich ein Exemplar ins Netz ging. Es war ebenso ein ziemlicher Kraftakt dieses gebändigt zu bekommen, war es fast mannsgroß und kraftvoll genug, das es ihr Floß gefährlich ins Kippen gebracht hatte.

Es war diese Wahrscheinlichkeit, die Wangji dazu veranlasst hatte einen Teil seiner Theorie bereits auszutesten, indem er diesen mit einem Seil aus líng qì zu fesseln versuchte. Zuerst zeigte es sich, wie vermutet, kaum nützlich, schwächte sich dessen Kraft, je länger es um den zappelnden Körper gebunden blieb.

Er ließ ein Band eines Verstärkungs-Zaubers sich um das Seil winden, um dieses zu festigen, bis es komplett davon umschlossen war. Das Zappeln ließ nach, doch verebbte nicht gänzlich. Es ließ Wangji dennoch hoffen, das seine Theorie hier schon etwas Fuß gefasst hatte.



„Was habt ihr mit ihm vor?" Sie hatten das Ufer wieder erreicht und den Salamander abgeladen, dass Wen Ning nun etwas unbeholfen neben diesem verharrte.

„Das manipulierte Yin extrahieren, um etwas auszutesten." Wen Ning nickte knapp. Auf Wangji's Bitte hin, erlöste Wen Ning das Tier von seiner unheiligen Qual und bat ihn sich soweit wie möglich zurückzuziehen, dem dieser nur zögerlich Folge leistete.

Wangji war somit das einzige Lebewesen, in das sich das veränderte Yin flüchten konnte und er wartete, seine Guqin vor sich, dass es sich zeigte. Bei der Größe des Salamanders sollte es zu erkennen sein, wenn es diesen verließ.

Und das tat es.

Dieselben feinen, rot-schwarzen Schwaden, die auch Yi Ling hatte hervorlocken können, krochen aus dem toten Körper hervor, und blieben für einen Augenblick schlicht in der Luft hängen und wanden sich um sich selbst. Fast, als würde es sich zunächst orientieren müssen.

Dann schien es seine Gegenwart zu erfassen, lehnte sich der Nebel in seine Richtung und...

Die ersten kräftigen Klänge der Guqin peitschten durch die Luft, griffen nach dem Yin wie Klauen eines Adlers.

Wangji verfolgte was vor sich ging aufmerksam, ohne sein Spiel zu unterbrechen.

Die Magie die in der Vibration seiner Noten steckte, zeigte sich effektiv, hatte das Yin noch keine Möglichkeit gefunden, sich dieser zu entziehen oder sie zu neutralisieren.

Genau was er gehofft hatte bestätigt zu sehen.

Seine Melodie wurde schwerer, intensiver in ihrer Kraft, bis es das Yin regelrecht darunter pulverisierte und die letzten Partikel sich unter der Magie der letzten Klänge auflösten.

Wangji spürte ein Aufwallen, über diesen Erfolg, das ihn an Yi Ling's Temperament erinnerte, war es ungestüm und vorwitzig in seinem Aufkommen. Doch ließ er es nicht an die Oberfläche.

Er hatte etwas zu erledigen und er sollte keine weitere Zeit dafür verstreichen lassen.

Er wandte sich noch einmal an Wen Ning, bevor er Yi Ling's Transporttalisman nutzte, um sich in die Wolkenschlucht zu bringen.



*Wangji hatte sich dafür endschieden seine Rückkehr geheim zu halten, hatte er nicht vor länger als notwendig zu bleiben. Doch er wollte seinem Bruder über die beunruhigenden Vorkommnisse berichten und ebenso eine Bitte vorbringen.

Er hatte sich mit dem Talisman in das Hinterland der Wolkenschlucht bringen lassen, wusste er, dass sein Bruder um diese Zeit dort zu meditieren pflegte. Es war eine der wenigen Möglichkeiten mit ihm unter vier Augen sprechen zu können.

Es war von Vorteil, dass er sich auf diese feste Gewohnheit verlassen konnte.

Sein Bruder wählte dafür stets den Platz in der Nähe des kleinen Wasserfalls, dessen Strom in ein seichtes Wasserbecken fiel, an welches ein kleines, erhöhtes Felsplateau angrenzte.

Sein Bruder saß im Lotossitz auf ebendiesem Plateau, die Augen geschlossen und strahlte erhabenen Einklang von Geist und Körper aus.

Normalerweise war es ein Frevel solch eine meditative Phase zu stören, wenn der Grund dafür nicht gerechtfertigt werden konnte. Eine Nacht zur Disziplinierung in der kalten Quelle, war die Strafe dafür.

Er würde dieser Nachkommen, sobald er offiziell von seiner Reise zurückgekehrt sei.

Er betrat das Plateau und kniete sich seinem Bruder im gebührenden Abstand gegenüber.

Es bedurfte keiner Worte, um diesen seine Präsenz bemerken zu lassen. Etwas das sein Bruder schon früher zu beherrschen schien, als er sich nach dem Tot ihrer Mutter, oft genug vor der Welt versteckt hatte. Es war zu jener Zeit beruhigend gewesen zu wissen, dass es jemanden gab, der dafür sorgte, dass er nicht verloren ging, ob nun in seiner Trauer oder seiner Einsamkeit.

„Wangji.", hörte er ihn in einem sanften Ton sagen, bevor sich dessen Augen öffneten und dieser ihm ein warmes Lächeln schenkte.

„Bruder.", er verbeugte sich vor ihm angebracht.

„Was hat dich nach Hause gerufen?" Xichen versteckte die leichte Verwunderung in seiner Stimme nicht, wie auch den Faden Besorgnis der sich dort mit eingewoben befand.

„Ich habe etwas zu berichten. Doch ist der Hauptgrund für mein Erscheinen ein anderer." Die Augen seines Bruders zeigten diesen mildtätigen Ernst, der ihn zu solch einer respektablen Persönlichkeit für ihn machte.

„Ich nehme an es ist etwas dringliches, wenn du deine Reise dafür so abrupt unterbrochen hast?"

Wangji nickte bestätigend.

„Was ist vorgefallen?", erkundigte sich Xichen und Wangji weihte ihn in die Vorkommnisse mit der Yin-Materie ein. Es blieb nicht aus von seiner eigenen Erfahrung damit zu berichten, wollte er verdeutlichen, was für eine unbekannte Gefahr diese darstellte.

Xichen hatte ihn über seine Erzählung nicht unterbrochen, doch sah er ihm seine brüderliche Sorge dennoch an.

„Das ist in der Tat besorgniserregend. Und ich bin froh, dass dir nichts Schlimmeres dadurch zugestoßen ist. Ich schulde Yi-xiàng gong (junger Gentelman) meinen aufrichtigen Dank, dass er sich so uneigennützig meinem geschätzten, kleinen Bruder annahm.

„Ich schulde ihm mein Leben.", unterstrich Wangji diese Tatsache selbst noch einmal fest und Xichen nickte verstehend.

„Ich möchte daher die Erlaubnis erbitten, diese Schuldigkeit mit etwas gleichwertigen begleichen zu können." Wangji verbeugte sich soweit, das seine Stirn die vor ihm auf dem Fels ruhenden Hände berührte.

„Wangji, welcher Wunsch bringt dich dazu dich mit solch einer Demut zu verbeugen? Muss ich mir doch innigere Sorgen machen, als du mich hast glauben lassen?" Wangji verblieb in seiner Position, während er weitersprach.

„Der Mann der mein Leben rettete, ist von ungeschliffener, schamloser und leichtsinniger Natur. Es bedarf unnötiger Mengen an Geduld und Selbstbeherrschung seiner Präsenz Herr zu werden. Wenn Gusu Lan auf 3000 Regeln beruht, dann sind es 3000 Idiotien die für ihn sprechen." Wangji hätte noch ein paar Dinge zu Yi Ling zu sagen, doch...

„Und doch, ist er jemand dessen Großzügigkeit, Fürsorge und Selbstlosigkeit unbestreitbar sind. Sein Wesen mag dem eines wilden Flusses gleichkommen, doch ist sein Herz dort, wo es auch die Regeln unseres Clans wissen wollen. Wie auch sein Geist mit einer eigenwilligen, überraschenden Brillanz glänzt.

Mein Wunsch wäre ein gleichwertiges Aufwiegen meines Dankes an ihn.

Ich habe zu befürchten, dass er abermals seiner Leichtsinnigkeit erliegen wird und das womöglich mit irreparablen Folgen für ihn selbst."

Er berichtete von Xīzhào Shùlín, dem Berg wo es sich befand, dem Sonnenbrüter im See und dem Schicksal das diese drei ereilen würde, würden sie nicht helfen. Yi Ling's Plan, den er überflogen hatte und von dem er wusste, das dieser versuchen wollte ihn möglich zu machen.

Egal der Kosten für sich selbst.

„Deswegen...deswegen lasst mich in den heiligen Berg gehen, um eine der Drachenschuppen zu entnehmen." Xichen's tiefes Durchatmen, kam nicht unerwartet.

Seine Bitte war eine Unverfrorenheit, die auch keine Strafe in der kalten Quelle würde wieder berichtigen können.

„Wangji..." Allein in diesem einen Wort hörte er all die Dinge heraus, die sein Bruder nicht sagte.

Dass er nicht weniger Leichtfertig erschien.

Dass es nicht so einfach war, bedurfte es die Einwilligung der Ältesten, welche, und sei sein Grund auch noch so nobel, sie ihm nicht geben würden.

Eine Drachenschuppe war eine heilige Kostbarkeit.

Das Lan-Clan Anwesen wurde auf einer Drachenvene errichtet, welche diesen Ort mit pulsierendem líng qì belebte, ihn zu einem heiligen Berg machte. Es war reine, ungebändigte Energie. Eine Drachenschuppe war ein Einschluss eines Tropfens dieses líng qì. Feine schuppenartige Kristalle, puren Lebens.

Die in falscher Hand aber ebenso unermesslichen Schaden verursachen konnten.

Xichen's anhaltendes Schweigen war ebenso nicht verwunderlich, doch hatte Wangji für sich bereits einen Entschluss gefasst.

Wenn es sein musste, dann würde er auf eigene Faust versuchen an eine der Schuppen zu gelangen.

„Du hast deine Entscheidung bereits getroffen, nicht wahr?" Brüderliche Ergebenheit wohnte dieser Feststellung inne.

„Doch es stärkt mein Herz zu sehen, das du eine, dir so wichtige, Freundschaft gefunden hast. Der Kontakt zu anderen schien dir stets nur eine Notwendigkeit, als der Wunsch Bindungen zu knüpfen."

Freundschaft; so ging es Wangji durch den Sinn. Etwas das ihm in seiner tieferen Bedeutung nicht vertraut war. Etwas das ihn auch nie wirklich gestört hatte, lenkte der zu innige Kontakt zu anderen ihn nur von seinen Pflichten und Zielen ab.

Doch nun wurde es erneut mit ihm in Verbindung gebracht und es stimmte ihn nachdenklich.

Freundschaft.

War es das was ihn mit Yi Ling verband?

Abermals fühlte er sich unbeholfen über diese Möglichkeit.

„Bis du dir wirklich sicher, dass du soweit gehen möchtest?" Wangji hatte den Gesichtsausdruck seines Bruders vor Augen, den jener gerade zeigen mochte, als er ihn dies fragte.

Nachdenklich besorgt.

Es war ein Ausdruck, wenn dieser zwiegespalten war; des einen, weil er seinen Bruder unterstützen wollte, des anderen, weil er wusste, dass sein Anliegen ihm, Wangji, Schaden zufügen könne.

Xichen's Beschützerinstinkt, wenn es um ihn ging, war etwas das ihr Onkel oft genug ermahnt hatte, als sie noch Kinder waren. Und auch wenn sein Bruder es über die Jahre zurückgestellt hatte, da auch er wusste, dass er für sich selbst heranwachsen musste, so hatte er es nie vollkommen aufgegeben.

„Ich verstehe deinen Wunsch, doch werde auch ich nicht viel tun können, um die Ältesten und Onkel zu überzeugen." Xichen schwieg, doch lag dieser Pause ein Unterton inne, der Wangji nicht unbekannt war.

„Sollte jemand trotz aller Vorkehrungen den Berg betreten haben können, liegt es wohl an uns, diesen für die Zukunft besser zu sichern.", setzte er darauf fort.

„Sollte dieser jemand nicht vorsichtig genug sein, und versuchen arglos solch eine Schuppe hier herauszuschmuggeln, ist es an ihm, die Konsequenzen zu tragen, sollte man ihn stellen.

Dieser jemand, sollte somit gut durchdacht haben auf was er sich einlässt." Bedeutungsschweres Schweigen legte sich für einen Moment um sie.

„Danke, Bruder.", war alles was Wangji zu sagen im Stande war, wusste er, dass es für Xichen nie leicht war seinem Starrsinn nachzugeben. So wie dieser auch wusste, dass er sich nicht würde abhalten lassen, wenn er sich erst einmal etwas vorgenommen hatte.

Es war eine Frage von Respekt, auch wenn sie bezogen auf ihre Regeln, nicht das solide Gewicht darbot, wie es angebracht wäre, das er nicht schlicht unbemerkt zurückgekommen war und sich einfach nahm was er ersuchte.

Nicht, das er so etwas in Betracht gezogen hatte.

Er war nicht undankbar gegenüber dem Wohlwollen seines Bruders, noch dem Halt dem ihm der Clan gab.

Xīzhào Shùlín helfen zu wollen; Yi Ling helfen zu wollen, sah er als eine Pflicht.

Zumindest sollte es das Gefühl sein, das ihn handeln ließ.

Dass sich etwas darin wiederfand, das er irritierend nachdrücklich; befremdlich beflügelnd fand, schob er auf die Dringlichkeit der Situation.

Er verbeugte sich erneut gebührend, bevor er sich wieder aufrichtete, was sein Bruder mit einem besorgten aber ehrlichen Lächeln erwiderte.

„Geb auf dich Acht Wangji. Und richte Yi xiàng gong meine besten Wünsche aus. Ich hoffe du wirst erreichen, was dir dieses Risiko wert ist."



Der Eingang in den heiligen Berg wurde nicht offensichtlich bewacht, um unerwünschte Aufmerksamkeit darauf zu vermeiden.

Somit hatte man eine Vielzahl sich überlagernder Siegel darüber gelegt. Sollte man auch nur eines davon nicht korrekt aufheben, würde es ein Alarmsignal auslösen und binnen weniger Momente wäre der Platz mit Wachen gefüllt.

Zudem war es auch nicht jedem aus dem Clan erlaubt, beziehungsweise möglich, den Berg zu betreten.

Nur jene die zur Hauptlinie der Familie gehörten oder denen der einen der höchsten Ränge in ihrer Clanordnung zugehörte, war es erlaubt.

Wangji kannte die Komplexität der Siegel, hatte ihn ihr Onkel für diesen Prozess mit zur Seite genommen, damit er sich mit der Kunst solcher Magie auseinandersetzte, war er immerhin ein direkter Nachfolger des Lan Familiennamens.

Lan Qiren hatte zu jener Zeit sicherlich nicht einen Gedanken daran verschwendet, das sein zweiter Neffe dieses Wissen eines Tages unautorisiert missbrauchen würde.

Doch war sein Onkel oftmals viel zu eisern an die alten, steifen Traditionen gebunden, dass er wusste, das er diesen mit seinem Vorbringen einem einfachen Dorf der Menschen aushelfen zu wollen, kein Gehör geschenkt hätte. Solche Dinge waren etwas, das die seinen schlicht als ein Schicksal dieser betrachteten.

Seine Mutter hingegen hatte ihm beigebracht, dass sie ihre Kräfte und Möglichkeiten für das Gute nutzen sollten.

„Warum sonst, sollte uns die Macht gegeben worden sein, wenn nicht dafür, zu helfen wenn es uns möglich ist?" Egal wer sie benötigte.

Alles andere sei nichts weiter, als grob entschuldigte Arroganz.

Bis heute, konnte er sie nur für ihren aufrechten Willen bewundern, der sich auch nicht hatte brechen lassen, selbst als man ihr sämtliche Freiheiten, ihres alten Lebens, genommen hatte. Einzig, weil sie sich in einen Mann verliebte, der nicht ehrlich zu ihr sein konnte.

Was auch immer der Grund seines Vaters dafür gewesen sein mochte, ihr Vertrauen zu hintergehen, er würde ihm nie verzeihen können.

Am Ende hatte sich dieser im krankhaftem Kummer, und dem Ergeben ihrer unbeugsamen Traditionen und Regeln versteckt, bis ihn das Ableben seiner Frau ebenso den letzten Rest an Lebenswillen nahm.

Es war absurd in seiner überspitzten Dramatik und ein weiterer Beweis für seinen Egoismus.

Hätte ihr Vater es nur wirklich gewollt.

Hätte er es nur wirklich versucht, anstatt dieses, von außen bestimmte Schicksal einfach hinzunehmen, vielleicht hätten sie die Familie werden können, die er sich so viele Jahre danach noch ersehnt hatte.

Wangji war nicht wie sein Vater, und deswegen würde er auch nicht einfach aufgeben, solange es noch Chancen gab.

Es war eine kräftezehrende Aufgabe die Siegel zu lösen, wenn er nicht das volle Potenzial seines goldenen Kerns nutzen konnte.

Es wäre nicht mehr von Belang sobald er den Berg betreten würde. Das líng qì hier war kraftvoll genug um seinen Kern wieder aufzuwerten. Auch wenn es die Einschränkung seiner Potenz nicht aufheben würde.

Solange er nicht offiziell zurück in die Wolkenschlucht kehrte, würde die Limitation bestehen bleiben, konnte er nicht selbst darüber bestimmen.

Doch es reichte ihm auch schon dieser geringe Fortschritt, den er sonst wohl nur über weitere Wochen Training und Meditation hätte wieder erreichen können.

Die gewaltige Energie war sofort spürbar, sobald er das letzte und aufwendigste Siegel geöffnet hatte, dass es ihn einen Augenblick fast überwältigte.

Der unverhoffte Vorteil seiner líng qì Einschränkung war der, dass das der Drachenvene nicht ungehalten in ihn einströmen konnte um ihn, in der Tat, zu überwältigen. Dennoch war eiserne Konzentration erforderlich, um dieser Gewalt standhalten, sich überhaupt darunter bewegen zu können.

Auch der kraftvollste goldene Kern verlangte von seinem Träger ab, dass er dessen Energie handhaben konnte. Zuviel líng qì das mit einem Male in einem untrainierten Körper aufgenommen wurde, konnte jemanden in wortwörtliche Stücke, oder in anderen Fällen, in den Wahnsinn reißen.

Deswegen war das Kultivieren dieser Kraft ein Prozess den es nicht zu hetzten galt, auch wenn es Jahrhunderte in Anspruch nehmen konnte.

Wangji kämpfte sich durch den dicken Wall an Energie, als müsse er sich durch eine meterhohe Schneeschicht graben, was schwieriger wurde je weiter er sich vorarbeitete. Als würde der Schnee zu Eis werden.

Es erschien ihm folglich wie als würde er sich in einer Art von Trance befinden, die ihn fürchten ließ, das seine Sinne ihm zu schwinden drohten, als er die Drachenschuppen wie Katzenaugen blitzen sah.

Nicht größer als eine Kinderhand musste sie für ihre Zwecke sein.

Der Kristall als er ihn aufnahm, fühlte sich unbeständig in seiner Konsistenz an, unwirklich und ohne das geringste Gewicht. Als habe er versucht einen Strahl der Sonne mit bloßer Hand festzuhalten.

Vorsichtig verstaute er die Schuppe in dem zuvor entwendeten Mondjade-Gefäß, das für diese Zwecke Nutzen fand und das líng qì sicher in sich verschloss.

Dessen fehlen würde für Aufregung sorgen, sobald es bemerkt werden würde, doch da wäre er hoffentlich schon wieder auf seinem Weg.

Auf Bichen würde er wohl gut drei Tage brauchen um Xīzhào Shùlín wieder zu erreichen. Drei Tage die ausschlaggebend sein konnten, würde Wen Ning Yi Ling nicht bis zu seiner Rückkehr von größeren Dummheiten abbringen können.

Wäre sein goldener Kern nicht eingeschränkt in seiner Kraft, hätte er einen Reisezauber anwenden können, doch so blieb ihm nichts weiter übrig, als der lange Weg zurück.

Trotz seiner Eile, legte er jedes Siegel wieder präzise über den Eingang

Er war gerade dabei sich wieder davonzustehlen, als er ein Zwitschern vernahm, das seine Aufmerksamkeit auf einen Beutel nicht unweit des Eingangs lenkte und er an diesen herantrat.

Ein Sonnenvogel saß darauf und schaute abwartend.

„Bruder.", murmelte Wangji leise.

Der Vogel zwitscherte abermals und flog davon,

Wangji nahm den Beutel auf, dessen Stoff von feinen magischen Seidenfäden durchwoben war und in welchem er das Jade Gefäß sicher verstauen konnte. Der eingewobene Zauber würde dabei helfen es unbemerkt aus der Wolkenschlucht herauszuschaffen, schirmte dieser die líng qì Signatur ausreichend ab, das niemand etwas davon auffallen sollte.

Doch bevor er sich wieder auf den Weg machte, schlug er noch einen kurzen Abstecher in seine Jìngshì ein.

Durch den geheimen Eingang, sollte er dabei unentdeckt bleiben.

Er wusste genau was er suchte und schenkte seinen Räumlichkeiten somit nicht mehr, als ein flüchtiges Umblicken.

Erfolgreich in seinem Vorhaben, verstaute er auch dieses Objekt in dem Beutel und begab sich zügig zurück in das Hinterland, bis er einen Platz gefunden hatte, von welchem er sich unbemerkt mit Bichen in Bewegung bringen konnte.


In another life the sea is in the sky - Searching for the smile of the moonWo Geschichten leben. Entdecke jetzt