Kapitel 6

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Ich sah hoch und blickte sie fragend an.

In ihrem Kopf schien es zu arbeiten, doch dann schien sie eine Entscheidung getroffen zu haben und ließ den Türgriff los.

„Wir sollten vermutlich reden", sagte sie dann. Ihre Stimme klang gleichzeitig unglaublich sanft und eiskalt.

Ich massierte mir die Schläfen. „Ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass das gerade eine gute Idee ist."

Doch Minou gab nicht auf. „Erzählst du mir dann wenigstens, warum du mich hasst?", bat sie.

Sofort merkte ich, dass ich wieder wütend wurde. „Weißt du was? Okay!", rief ich.

Minou wirkte überrascht. Kein Wunder, ich war ja selbst überrascht von mir.

Ich sah ihr in die Augen und überlegte, ob ich wieder aufstehen sollte, aber entschied mich dann dagegen. Scheiß auf autoritäre Ausstrahlungen.

„Es ist nicht so, dass ich dich hasse, Minou ..." Ich machte eine kurze Pause. „Ich halte mich nur halt lieber von dir fern."

Minou wirkte ehrlich gekrängt. „Warum?", fragte sie.

„Warum? Weil du und Melissa alles Leben um euch herum verseucht!"

„Autsch."

„Ich meine, warum um Himmels Willen macht ihr andere andauernd fertig?"

Es entstand eine kurze Pause. „Du verstehst das nicht ...", sagte sie dann leise.

„Nein, das tue ich ganz offensichtlich nicht! Aber du warst doch diejenige, die reden wollte!"

„Klar, wir lästern über andere, aber macht das denn nicht eigentlich jeder?", fragte sie mich.

Ich schwieg.

„Siehst du?"

„Und was war das mit Antonia neulich? Jemand meinte, Melissa hätte sie dermaßen zusammengestaucht, weil sie das gleiche Top getragen hätte wie sie!"

„Das ist doch total aus dem Zusammenhang gerissen! Ja, die beiden haben sich gestritten und ja, die beiden hatten das gleiche an, aber das hatte doch nichts miteinander zu tun! Ich glaube langsam, du WILLST, dass wir böse sind! Nenn mir ein einziges Mal, an dem Melissa oder ich etwas getan haben, dass so richtig schlimm war."

Ich merkte, dass ich das nicht konnte. Hatte sie vielleicht Recht und ich wollte einfach nur, dass Melissa Lord die Personifikation des Bösen ist? Klar, sie und Minou waren nicht immer nett, aber das war ich, ehrlich gesagt, auch nicht. Im Gegensatz zu vielen der Hauptcharaktere aus den Büchern, die in meinen Regalen stand, hatte ich in der Vergangenheit auch schon vieles getan, dass ich im Nachhinein bereute. Sachen, die einfach nicht nett waren, warum also verurteilte ich Minou dafür, dass sie das gleiche getan hatte?

Ich realisierte erst, dass eine lange Pause entstanden war, als Minou wieder etwas sagte.

„Okay, du bist dran."

Ich sah sie verwundert an. „Womit?"

Sie trat an mein Bett und setzte sich dann neben mich. „Mit einer Frage. Ich durfte eine stellen und jetzt bist du dran."

Ich nickte langsam. Irgendwie machte das auf eine abgedroschene Art und Weise Sinn.

Jetzt, wo Minou so dicht neben mir saß, nahm ich zum ersten Mal den angenehmen Geruch wahr, der von ihr ausging. Sie roch nach exotischen Früchten.

Ich zwang mich, mich wieder zu konzentrieren und witterte dann meine Chance, endlich eine Antwort auf die Frage zu bekommen, warum sie mich nicht alleine arbeiten lassen wollte.

„Wieso wolltest du unbedingt mit an dem Projekt arbeiten?", fragte ich zögerlich.

Minou seufzte leise. „Meine Freunde meinten, ich hätte das große Los gezogen, dass ich nichts machen müsste und trotzdem eine Eins kassieren würde. Keine Ahnung, ich fand das irgendwie ... nicht cool."

Aus einem mir unerklärlichen Grund rechnete ich Minou das hoch an, doch ihr schien es eher peinlich zu sein. Sie schüttelte kurz mit dem Kopf und sah mir dann wieder in die Augen.

„Ich bin dran: Warum wolltest du denn überhaupt allein arbeiten?"

Ich seufzte. „Das habe ich doch schon zugegeben."

Sie nickte. „Stimmt, egal, frag du wieder."

Ich überlegte kurz, mir viel aber nicht viel ein. „Warum konntest du nur Mittwoch?", fragte ich deshalb.

Sie zuckte kurz mit den Schultern. „Ich habe mich Dienstag mit Melissa getroffen und morgen ist die Beerdigung meiner Großmutter."

„Oh", sagte ich, „das tut mir leid."

„Das muss es nicht, ich kannte sie fast gar nicht."

„Ich meinte natürlich, dass es mir leidtut, dass du dich mit Melissa hast treffen müssen", scherzte ich. Sie fand es nicht witzig.

„Was ist dein Lieblingsbuch?", fragte sie dann nach einem kurzen unangenehmen Schweigen endlich.

Ich blickte sie verwirrt an und sie deutete auf meine Regale. „Ich dachte, du würdest auf Bücher stehen?"

„Ja, naja, schon."

„Also, was ist es? Oder hast du keins?"

Ich überlegte kurz. „Keine Ahnung, Fahrenheit 451?"

Minou strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. „Ja, ist ziemlich gut."

„Du hast es gelesen?", fragte ich überrascht.

Sie grinste. „Wenn ich nicht sowieso schon wissen würde, dass du mich für einen unterbelichteten Neandertaler halten würdest, würde ich mich jetzt angegriffen fühlen."

Ich lachte unsicher. „Tut mir sein, es ist nur ... ich versuche Lina und Simon seit Jahren dazu zu überreden, es zu lesen."

„Und deshalb kann ich es natürlich nicht gelesen haben ...", Minou zuckte herausfordernd mit den Augenbrauen.

„Es ist doch nur, dass ..."

„Das ich dumm bin, weil ich mich schminke?" Ihre Stimme klang plötzlich ernster.

„Das ist nicht fair!", versuchte ich mich zu verteidigen. „Du tust gerade so, als würde ich Vorurteile haben!"

Minou runzelte die Stirn. „Ach und das ist nicht so?"

Ich schüttelte vehement mit dem Kopf. „Nein! Das hat nämlich nichts damit zu tun, wie du aussiehst. Gut, auf jeden Fall nicht nur, aber vor allem liegt es daran, dass du letztes Jahr fast sitzen geblieben wärst. Und außerdem ... habe ich dich noch nie in meinem Leben mit einem Buch gesehen!"

Minou biss sich auf die Lippe. „Ich gebe zu, dass du da Recht haben könntest."

„Danke schön", sagte ich mit Nachdruck.

„ 'Wem Einsicht den Bogen spannt, dessen Pfeil fliegt weit und trifft.' – Emil Baschnonga", zitierte Minou.

„Sehr weise", meine Stimme klang vermutlich ein wenig zu sarkastisch und es entstand erneut eine peinliche Stille.

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