Kapitel 12

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Ich riss die Augen auf. „WAS?"

Doch Simon schien kein bisschen verunsichert. „Naja, es ist doch ziemlich offensichtlich: Wie du über sie redest, wie du dich in Bio verhältst und neulich in der Eisdiele ..."

Ich starrte ihn an, aber er zuckte nur gleichgültig mit den Schultern. „Ist doch nichts Schlimmes. Eine Tante von mir steht auch auf Frauen. Und ehrlich gesagt habe ich es mir schon seit längerem gedacht, deine Art war ja immer schon ein bisschen ..."

Ich streckte eine Hand aus. „Okay, jetzt halt mal die Luft an. Ich weiß nicht, was du da meinst zu sehen ... oder was du da sehen willst, es ist nicht so. Ich bin nicht lesbisch."

„Okay", er zuckte mit den Schultern.

„OKAY?", ich wurde langsam wirklich sauer. „Erst behauptest du sowas und dann tust du einfach so als wäre nichts?"

Er wollte mir eine Hand auf die Schulter legen, aber ich schlug sie weg.

„Vera, ich wollte doch nur damit sagen ... ich verstehe vollkommen, dass du erstmal Zeit brauchst, um darüber nachzudenken."

„Ich brauche keine Zeit, denn es gibt nichts, worüber ich nachdenken müsste", fuhr ich ihn an.

Eventuell hätte ich anders reagieren sollen, er meinte es vermutlich nur gut, aber einfach so solch einen Schwachsinn zu behaupten ... da konnte er auch nichts anderes erwartet haben!

In den nächsten fünf Minuten saßen wir nur schweigend in meinem Zimmer, ich funkelte ihn böse an und er lächelte leicht, aber nicht so, als wäre er glücklich, eher so, als würde er einem verloren gegangenen Kind versichern, dass seine Mutter es bald abholen würde. Irgendwie genervt, auch wenn Simon vermutlich im Gegensatz zu mir in so einer Situation überhaupt nicht genervt wäre.

Die Zeit verstrich und die Stille wurde immer unangenehmer. Irgendwann seufzte Simon leicht. „Wenn du irgendwann mal jemanden zum Reden brauchst, ich bin jederzeit für dich da, auch wenn ich vielleicht nicht unbedingt der beste Ansprechpartner bei diesem Thema bin ..."

„Ach ja? Und wenn du dir selbst eingestehst, nichts über sowas zu wissen, woher nimmst du dir dann das Recht, solche Anschuldigungen auszusprechen? Weißt du was? Fick dich!", ich war immer lauter geworden und ich fragte mich, ob unsere Eltern uns wohl gehört hatten. Hatten sie vermutlich nicht, denn nur wenige Sekunden später erklang Gelächter aus dem Wohnzimmer.

Ich drehte mich wieder zu Simon um, doch er sah mich nur mit weit aufgerissenen Augen an. Das hatte offensichtlich gesessen. Plötzlich huschte ein Schatten über sein Gesicht und er kniff die Augen zusammen. Die unschuldigen blauen Augen, die einem sonst immer ein Gefühl von Geborgenheit gegeben hatten, hatten sich im Bruchteil einer Sekunde in zwei emotionslose Löcher verwandelt.

„Weißt du, Vera, du tust gerade so, als hätte ich dir einen Mord unterstellt. So als wäre Homosexualität etwas Schlimmes. Warum regst du dich so über die Vermutung auf, auf Frauen zu stehen? Das ist doch nichts Schlechtes, oder siehst du das etwa anders?"

Ich starrte ihn entgeistert an. Was sollte das denn jetzt?

„Natürlich habe ich nichts dagegen!"

Er sah mir tief in die Augen. Und fuhr dann mit ruhiger Stimme fort: „Und warum regst du dich dann so über meine Worte auf?"

Ich spürte, wie mir die Hitze in den Kopf schoss und meine Hände anfingen zu zittern.

„Ich weiß es nicht", gab ich leise zu.

„Okay."

Sein Gesicht hatte sein vertrautes, engelhaftes Aussehen wiedererlangt und er stand auf und begutachtete meine DVD-Sammlung. Ich merkte, wie ich mich langsam wieder entspannte.

„Willst du einen Film sehen?", fragte ich vorsichtig, doch er schüttelte den Kopf und stellte die Harry-Potter-DVD, die er in der Hand gehalten hatte, wieder zurück an ihren Platz. „Ich glaube, das lohnt sich nicht mehr."

Er warf einen flüchtigen Blick auf die Uhr an seinem Handgelenk. „Ich glaube, wir gehen gleich."

Ich nickte. „Okay."

In dem Moment klopfte es und Simons Vater streckte den Kopf ins Zimmer. „Simon, wir würden gleich los wollen."

Wenn man vom Teufel spricht ... aber in diesem Fall war der Teufel wohl eher mein Erlöser aus einer unangenehmen Situation.

Jetzt nickte Simon. „Klar."

Ich begleitete die zwei noch mit runter, da ich wusste, dass meine Mutter mich köpfen würde, wenn ich den Besuch nicht gebührend verabschieden würde und betete im Stillen, dass unsere Eltern sich nicht noch ewig unterhalten würden. Taten sie tatsächlich mal nicht.

Simon umarmte mich zum Abschied, doch irgendwie war es anders als sonst, irgendwie künstlich.

Dann fiel die Haustür ins Schloss und ich verzog mich wieder auf mein Zimmer.

Dort angekommen warf ich mich auf mein Bett und starrte die Decke an.

Anderes als erhofft schien Simons Abwesenheit mich nicht von dem Chaos in meinen Gedanken erlöst zu haben, es war sogar im Gegenteil noch lauter geworden.

Was war, wenn Simon Recht hatte? Was war, wenn ich wirklich ...

Ich schlug mit der Faust gegen die Wand und bereute es Augenblicklich, als ein stechender Schmerz meinen ganzen Arm entlangfuhr.

Aber es war eindeutig Schwachsinn, ich hatte definitiv keine Gefühle für Minou, das war absurd, das hätte ich schließlich bemerkt. Aber dennoch war da diese kleine Stimme in meinem Kopf, die mir zuflüsterte, dass ich es doch eigentlich selbst schon gewusst hatte. Das es eine Erklärung dafür war, warum ich nie das Verlangen verspürt hatte, mir einen Freund zu suchen; dass es erklären würde, warum ich mich nie für Jungen interessiert hatte; warum ich, anders als die anderen Mädchen, nie ausgeflippt war, sobald irgendein ihrer Meinung nach „süßer" Typ an mir vorbeigelaufen ist.

Aber hatte ich denn je etwas für ein Mädchen empfunden?

Vielleicht war ich ja asexuell oder aromantisch, schoss es mir durch den Kopf. Ich hatte mal irgendwann etwas darüber gelesen und sogar kurz darüber nachgedacht, ob das auf mich zutreffen könnte, die Idee dann jedoch schnell wieder verworfen, da ich dachte, ich wäre einfach nur noch zu jung.

Ich kaute auf der Innenseite meiner Wange herum. Aber ich wollte irgendwann mal eine Beziehung, ich war mir zwar nicht sicher, ob ich Kinder wollte, aber einen Partner wollte ich eigentlich schon und ich war auch der Vorstellung, irgendwann mal mit jemandem intim zu werden nicht komplett abgeneigt, nur halt nicht mit -

Ein eiserner Geschmack erfüllte meinen Mund und lenkte mich von meinen Gedanken ab. Offensichtlich hatte die Stelle, auf der ich rumgebissen hatte, angefangen zu bluten.

Ich setzte mich aufrecht hin und fuhr mit der Zunge vorsichtig über die Wunde in meinem Mund. Irgendwie fühlte es sich komisch an, geschwollen oder vernarbt oder so, doch wenigstens hatte es aufgehört zu bluten. Verrückt.

Ich legte mich wieder hin und schlief ein, sobald ich die Augen geschlossen hatte.

Zebrawelt ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt