Entführt

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Ich verlasse den schrecklichsten Ort, den es für mich gibt. Meiner besten Freundin Minerva wird es nicht besser gehen, immerhin trauert sie gerade am Grab ihres Freundes, der durch einen Bombenanschlag ums Leben kam. Zudem musste sie vor einigen Jahren bereits ihre ermordeten Eltern begraben. Natürlich werde ich in dieser schrecklichen Zeit für sie da sein, aber aktuell gönne ich ihr einen Moment alleine zusammen mit seinen Eltern. Die ganze Zeremonie über wurde ich das Gefühl nicht los, dass uns irgendwer beobachtet. Immer wieder habe ich meinen Blick umher schweifen lassen, doch absolut niemanden gesehen. Jetzt aber höre ich ein verräterisches Knacken in den Büschen. Skyler, Minervas Bodyguard, geht bereits weiter vorne mit hängendem Kopf, sodass ich ihn nicht darauf ansprechen möchte. Ihn nimmt das ganze Geschehen auch mit, immerhin ersetzt er quasi Minas Eltern. Da ich außerdem meine Waffe im Hosenbund stecken habe – man kann bei den Geschehnissen ja nie wissen – beschließe ich, alleine nachzusehen. Ich löse mich aus der Trauergemeinschaft, ohne dass es scheinbar irgendwer bemerkt. Als ich mich dem Gebüsch nähre, nimmt das Geraschel zu. Derjenige, der uns beobachtet hat, versucht sicher zu flüchten. „Nicht mit mir, Freundchen", denke ich, da es sich um Jacksons Komplizen handeln kann – der Typ, der als Rache an meiner besten Freundin ihren Freund mit der Bombe umbrachte. Eiligen Schrittes zwänge ich mich durch die Laub und Nadelvegetation des Friedhofs, kann aber keine Person ausfindig machen. Angestrengt blicke ich umher, scanne mit meinen Augen die naheliegenden Buschwerke und spitze meine Ohren. Da ich absolut nichts erkenne beziehungsweise keine verdächtigen Laute mehr wahrnehme, schüttele ich frustriert den Kopf. „Sicher doch nur irgendein Tier." Ein Knacksen hinter mir lässt mich ruckartig umdrehen, doch dann höre ich einen Raben krächzen und sehe ihn kurz darauf wegfliegen. Es scheinen wirklich nur Tiere hier zu sein. Zu gerne hätte ich seinen Komplizen hier ermordet – der Leichnam hätte gar nicht mehr weit transportiert werden müssen. Meine Waffe, die ich eben beim Durchtreten der Büsche gezogen habe, stecke ich wieder zurück an ihren ursprünglichen Platz und bahne mir den Weg zurück. Weit komme ich jedoch nicht, denn plötzlich wird mir ein Tuch mit beißendem Geruch vor Mund uns Nase gepresst. Millisekunden wehre ich mich, doch ich habe mich so erschrocken, dass ich ruckartig eingeatmet habe. Mir gelingt es nicht mehr meine Waffe zu greifen, denn im nächsten Moment verlassen mich meine Kräfte und ich falle in Ohnmacht.

Wahnsinnige Kopfschmerzen veranlassen mich dazu, meine Hände zu den Schläfen führen zu wollen, doch ich kann sie nicht bewegen. Mir fällt der Grund ein, wieso ich überhaupt einen so vor Schmerzen zerberstenden Kopf habe und reiße panisch meine Augen auf. Das grelle Licht blendet mich dermaßen, dass ich mich gezwungen bin, sie zu schließen und den Vorgang langsam zu wiederholen. Es funktioniert, auch wenn dieses Licht meine Kopfschmerzen nochmals zu verstärken scheint. Nun sehe ich aber den Grund, wieso ich meine Hände nicht wie üblich bewegen kann: man hat mir meine Fuß- und Handgelenke mit einer Kette zusammengefunden, wobei die Handfesseln zusätzlich an einem dünnen Rohr fixiert sind. Gesichert sind die Fessel mit kleinen Vorhängeschlössern. Ich liege auf einer völlig verdreckten, vergilbten Matratze, die den Namen eigentlich nicht verdient, so hart wie sie sich anfühlt. Der Raum, in dem ich mich befinde, liegt aller Wahrscheinlichkeit nach im Keller, da kein Fenster existiert, nur graue, fleckige Betonwände. Die einzige Öffnung ist durch eine metallene Gittertür geschlossen, die allem Anschein nach mit dem einzig neuen Gegenstand hier abgeschlossen ist: ein silbernes Vorhängeschloss. Scheinbar trauen die Entführer mir nicht, immerhin kann ich gefesselt die Tür gar nicht erreichen, aber sie gehen lieber auf Nummer sicher. Da ich auf dem Rücken liege, kann ich spüren, dass sie mir meine Waffe abgenommen haben. „Wäre auch zu schön gewesen." Überhaupt keine persönlichen Gegenstände kann ich fühlen, als ich mit meinen Händen meine Hosentaschen absuche. Frustriert seufze ich auf. Mein jämmerlicher Zustand wird durch die schwarze Kleidung noch betont, die ich auf Daves Beerdigung trug. Allein bei dem Gedanken zieht sich mein Herz schmerzhaft zusammen. Minerva hat gerade ihren Freund verloren und noch so viele andere Probleme, wo ich ihr beistehen sollte. Stattdessen liege ich in diesem muffigen, verrotteten Kellerloch und wünsche mir nichts sehnlicher als eine Schmerztablette. Um wenigstens meine Augen vor diesem grellen Licht zu schützen, habe ich sie wieder geschlossen. Natürlich möchte ich dieses Verlies so schnell wie möglich verlassen, doch ich beginne nicht hysterisch zu schreien – es würde mir eher Schwierigkeiten bereiten als meiner Flucht helfen, da bin ich mir sicher. Durch die Suche nach den Mördern von Minervas Eltern weiß ich, dass das hier nichts Gutes für mich bedeuten kann. Meine Entführer können mich nicht wegen Geld entführt haben, denn das haben weder ich noch mein Vater. Genauso unwahrscheinlich ist aber auch die Tatsache, dass sie mich einfach nur töten möchten – das hätten wie längst tun können, auch ohne Entführung.

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