Die Last wiegt schwer auf meinen Schultern, so schwer wie der Schnee auf den Ästen der Tanne. Die Unklarheit über Minervas Gesundheitszustand lässt mich hier verzweifeln. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich die Gefangenschaft noch durchhalten werden. Da wir uns in den Dolomiten befinden, wird der Schnee noch lange liegen bleiben. Zwar weiß ich nicht genau, wie viele Tage seit der Entführung vergangen sind, aber es war erst Spätherbst. Minerva hat erzählt, dass bis Ostern der Skibetrieb läuft und dass es sogar im Mai noch zu enormen Schneefällen kommen kann. Auf jeden Fall wären es noch Monate, bis ich endlich flüchten kann. Eliandro hat mich irgendwann allein gelassen ohne weitere Fragen zu stellen. Ich nehme an, er beauftragt irgendwelche Leute herauszufinden, wie meine Verbindung zu Dave war. Zu meinem Glück habe ich eine eigene Wohnung in Phoenix, in der ich mich auch überwiegend befand, seit meine beste Freundin mit Dave zusammenkam. Ich hoffe einfach, dass sich Aiden nicht mehr daran erinnert, als ich Mina auf die erste Party mitgenommen habe. Auf der zweiten hat er mich nie mit ihr zusammen gesehen. Ich könnte mir nicht verzeihen, wenn ihr meinetwegen etwas zustoßen würde.
Obwohl ich nicht zum Essen gerufen wurde, traue ich mich aus meinem Zimmer. Francesco folgt mir in gebührendem Abstand ins Wohnzimmer, wo ich die Einrichtung bestaune: eine blaue Velour-Couch, die über Eck geht. In der Mitte davon steht ein Glastisch in eliptischer Form auf einem Seidenteppich. Mir gegenüber befindet sich eine bodentiefe Glasfront mit Terassentür, links ein Kamin und ein typischer Wohnzimmerschrank mit Vitrine. In dieser stehen Bilder, die ich mir genauer ansehe. Auf allen ist lediglich Eliandro zu sehen, höchstens noch mit einem Freund, Familienfotos stehen hier keine. Er wirkt glücklich, grinst in die Kamera; sei es abseits der Skipiste oder in einer gemütlich aussehenden Hütte. Ich wende mich von der Vitrine ab und gehe stattdessen auf die Couch zu. Von ihr aus habe ich eine wunderbare Sicht auf einen sehr großen Fernseher an derselben Wand, wo sich die Tür befindet. Gegen meine Langeweile finde ich aber auch hier nichts, bemerke aber, dass Francesco nicht mehr zugegen ist. Verwundert schaue ich aus der Tür, doch weder im Flur noch in der Eingangshalle kann ich ihn ausmachen. Ich beiße mir auf die Unterlippe und überlege, ob ich ein wenig das erkunden soll, auch auf die Gefahr hin, erwischt zu werden. Aufgrund der Langeweile entschließe ich mich schließlich, genau das zu tun. Ich trete in den Flur und husche zur nächsten Tür, die zu meinem Glück nicht verschlossen ist. Schnell verschwinde ich in den Raum und schließe leise die Tür. Dann erst bemerke ich, wo ich mich aufhalte: in einer Bibliothek. Hohe Regale mit sehr vielen Büchern zieren die Wände, vor der Fensterfront stehen zwei rote bequem aussehende Sessel mit einem kleinen Holztisch in der Mitte. Freudig betrachte ich die Druckwerke und streiche ehrfürchtig über einige Einbände, die sehr alt wirken. Meine Vermutung bestätigt sich, als ich den Titel von einigen Werken lese. Es sind Klassiker, von deren Existenz ich schon gehört habe, unter anderem: Faust von Johann Wolfang von Goethe, Hamlet von Shakespeare, Udyssee von Homer und viele weitere. Aber auch moderne Literatur finde ich hier, zum Beispiel die Alex Delaware Reihe von Jonathan Kellermann, die sogar in verschiedenen Sprachen verfügbar ist. Da ich bereits einmal ein Band davon gelesen und es spannend fand, schnappe ich mir das Buch mit dem Titel 'Blutgier', setze mich auf die Sessel, die nicht nur bequem aussehen, sondern es auch in Wirklichkeit sind, und fange an zu lesen. Alex Delaware arbeitet als Psychologe, der sich besonders auf Kinder spezialisiert hat und schreibt Gutachten für Gerichte. Nebenbei hilft er seinem Freund Milo bei der Aufklärung grausamer Verbrechen. Dass ich eigentlich gar nicht hier sitzen dürfte, habe ich komplett ausgeblendet. Erst als ich meinen Namen rufen höre, schrecke ich auf. Wie lange ich hier gesessen habe, bemerke ich an der untergehenden Sonne und der Seitenzahl, 103. Noch bevor ich überlegen kann, was ich tun kann, wird die Tür aufgerissen und ein wütender Eliandro steht im Türrahmen.
„Es tut mir leid, aber...", versuche ich mich zu entschuldigen, werde aber unterbrochen.
„Du kommst jetzt sofort mit!", knurrt dieser bedrohlich und unterstreicht seine Wut mit einer Furche zwischen den Augen.
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HELenA
Teen FictionKurz nachdem Helena entführt wurde, lernt sie ihren Entführer kennen - ein alter Bekannter. Sein Plan: sie zu verkaufen. Helena aber denkt gar nicht daran, den skrupellosen Menschenhändlern zu gehorchen, auch nicht dem, der sie kauft und nach Italie...