111. Gefallene Helden

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Langsam öffnete ich die Augen. Ein grelles Licht blendete mich und ich musste mir eine Hand über das Gesicht halten, als ich mich stöhnend aufrichtete. Wo war ich? Mein gesamter Körper schmerzte und ich fühlte mich, als wäre eine Herde Elefanten über mich getrampelt.
"Hey, Vorsicht. Ganz langsam", ermahnte mich eine mir bekannte Stimme und ich sah mich überrascht um.
Neben mir, auf dem Gras auf dem ich saß, hockte eine rundliche Gestalt. Noch immer blendete mich das Licht der Sonne - als das ich es mittlerweile identifiziert hatte -, sodass ich nur Umrisse erkennen konnte, während meine Augen sich langsam daran gewöhnten. Der wuschelige Lockenkopf beugte sich jetzt ein Stück näher zu mir und tätschelte vorsichtig meine Schulter.
"Bist du okay? Dein Kopf muss ganz schön wehtun."
"Chuck? Was -? Ja... Ja, mein ganzer Körper tut weh", entgegnete ich.
Wir sahen uns einen Moment einfach nur an, langsam konnte ich auch sein rundliches Gesicht erkennen. Er sah aus wie an dem Tag, an dem ich ihn zum letzten Mal gesehen hatte, als er sich vor Thomas geworfen hatte. Als er gestorben war.
Als ich endlich realisierte, dass er es wirklich war, dass er tatsächlich vor mir hockte, konnte ich nicht anders. Ich stürzte nach vorne, völlig ignorierend, dass mir alles wehtat - wobei, tat es das? Mein Körper begann sich seltsam leicht, beinahe schwerelos anzufühlen - und schlang meine Arme um seinen Hals, vergrub das Gesicht in seinen Locken.
"Oh, Chuck", schluchzte ich.
So saßen wir eine Weile da, umarmten uns. Irgendwann hatte ich mich soweit beruhigt, dass ich ein Stück von ihm abrücken konnte. Ich berührte seine wuscheligen Haare, fuhr hindurch, so wie ich es damals immer getan hatte, strich ihm über das Gesicht. Stumme Tränen liefen mir noch immer das Gesicht hinunter.
"Ich hab' dich so vermisst."
Er nickte wissend.
"Wo bin ich?", fragte ich dann.
Verrückterweise war dies das erste Mal, dass ich mir darüber Gedanken machte. So sinnlos und unwirklich wie sich dies hier anfühlen müsste, so real war es doch.
Der Junge zuckte mit den Schultern. "Ich dachte, du könntest es mir sagen. Ich bin auch erst hier, seit du aufgetaucht bist. Aber ich bin sicher, sie kann es dir sagen."
Sie?
Fragend blickte ich ihn an, als er hinter mich deutete. Langsam drehte ich mich um, erkannte, dass wir uns ganz offensichtlich auf der Lichtung befanden - auf der echten Lichtung, unserer Lichtung.
Da sah ich sie, sie stand da, als wartete sie schon länger, aber hätte auch noch stundenlang gewartet, wenn ich es gebraucht hätte.
Teresa trug ein helles Kleid, das einem Arztkittel genauso sehr glich wie es sich von ihm unterschied. Als unsere Blicke sich trafen, breitete ein warmes Lächeln sich auf ihrem Gesicht aus. Sie streckte die Arme in meine Richtung, wie eine Einladung.
Mich mittlerweile wie auf Wolken fühlend, stand ich auf und ging zu ihr herüber. Ganz anders als in den unzähligen Simulationen, in denen sie mir begegnet war, flimmerte sie nicht. Sie wirkte so real wie in der Nacht der Flammen, dem Tag, an dem sie mein Leben gerettet hatte.
"Anna", hauchte sie, als ich sie erreichte. Es klang, als würde ihr durch meinen Anblick eine große Last von den Schultern genommen, gleichzeitig wich das Lächeln einem besorgten Ausdruck, als sie mich jetzt in den Arm nahm.
Wir hielten uns eine lange Weile fest. An diesem Ort konnte ich nicht sagen, wie die Zeit sich verhielt. Ich wusste nicht einmal mehr, wie lange ich schon hier war. Es konnten Sekunden sein, vielleicht aber auch Tage. Es war nicht wichtig.
Als wir uns wieder voneinander lösten, war das Lächeln gänzlich der Sorge gewichen.
"Warum bist du hier?", fragte sie.
"I-Ich weiß nicht, ich -", stammelte ich verwirrt. Es stimmte, ich wusste es wirklich nicht. "Wo sind wir hier, Teresa?"
"Nun ja, ich denke, wir sind auf der Lichtung, oder?", entgegnete sie und gemeinsam sahen wir uns um.
Auch Chuck war jetzt zu uns getreten und stumm betrachteten wir eine Weile die Mauern, die viel weniger bedrohlich und wie ein Gefängnis wirkten, viel mehr als würden sie uns sicher umschließen.
"Aber die Mauern, sie sehen so viel freundlicher aus. Nicht als würden sie uns hier einsperren", flüsterte ich.
"Ich schätze, das liegt daran, dass das hier deine Lichtung ist. Chuck und ich sind nur geladene Gäste. Das ist die Lichtung so, wie du sie als dein zu Hause in Erinnerung hast."
Langsam begann ich zu nicken. Ich verstand.
"Wir sind in meinem Kopf, richtig?"
"Vielleicht. Vielleicht sind wir aber auch irgendwo im Universum oder tief auf dem Meeresgrund. Ich denke, wir könnten überall sein, solange du es dir vorstellen kannst", sagte sie nachdenklich.
"Wir sind zu Hause", flüsterte Chuck und nahm meine Hand.
Und er hatte recht. Es war völlig unwichtig, ob wir in meinem Kopf waren oder ob das hier echt war. Ich fragte mich sogar, ob das überhaupt einen Unterschied machte.
Da wiederholte Teresa ihre Frage. "Anna, warum bist du hier?"
Nachdenklich blickte ich von ihr zu Chuck und dann zum Himmel, wo weiße Schäfchenwolken über unsere Köpfe hinwegzogen. Ich ließ mir Zeit mit meiner Antwort. Ich musste mir erst selbst darüber klar werden.
"Es war meine Entscheidung. Ich wollte es so. Es war der Hohe Rat, sie haben unsere Mutter entführt... Sie haben mich vor die Wahl gestellt, meine Freunde zu retten oder sie sie einen nach dem anderen holen und töten lassen. Sie haben mir die Augen geöffnet darüber, wer ich wirklich bin. Es war der einzige Weg."
Meine beiden Freunde schwiegen und gemeinsam beobachteten wir eine Weile die Wolken. Chuck ließ sich wieder ins Gras sinken und wir taten es ihm gleich. Zwischen den beiden liegend und den Himmel ansehend fühlte ich mich beinahe schwerelos. Ich war glücklich.
"Warum?", fragte Teresa da erneut in die Stille hinein.
"Ich verstehe nicht..."
"Warum hast du sie gewinnen lassen? Was konnten sie von dir wollen, dass das hier nötig war?"
Verwirrt runzelte ich die Stirn. Es war doch alles in Ordnung. Ich wollte an keinem anderen Ort sein. Warum klang sie, als wäre dies hier falsch, als dürfte es nicht passieren?
"Mein Gehirn", entgegnete ich ruhig. "Sie wollten mein Gehirn. Untersuchungen. Wissenschaft. Ist das nicht egal?"
Aber Teresa schien es nicht egal zu sein. Ganz im Gegenteil, sie richtete sich jetzt auf und zwang mich, ebenfalls den Blick vom Himmel zu nehmen.
"Nein, ist es nicht! Wie konntest du sie gewinnen lassen? Wie konntest du den selben Fehler machen wie ich? Ich konnte sie nicht mehr aufhalten, es war zu spät. Aber du... Du hattest die Möglichkeit und hast sie nicht genutzt."
Mein Kopf begann zu pochen, als ich ihre Worte zu verstehen, das, was passiert war, zu greifen versuchte.
"Es war die einzige Möglichkeit... Wir waren in der Unterzahl... Ich musste Thomas, Newt und die anderen retten. Sie hatten schon Vince getötet..."
Als ich Vince' Namen aussprach, war es, als würde ein Vibrieren durch die Luft gehen. Ohne zu wissen, was dies zu bedeuten hatte, drehte ich den Kopf in eine ganz bestimmte Richtung - und da stand er. Stumm blickte er mich an, dann kam er auf uns zu. Kopfschüttelnd ging er vor mir in die Hocke.
"Dein Wesen ist einfach zu rebellisch um sich an Versprechen zu halten, hm?", fragte er, klang dabei aber alles andere als wütend. Ein schwaches Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus.
"Es tut mir leid...", flüsterte ich und spürte, wie die Tränen mir wieder in die Augen stiegen. "Ich wollte nicht, dass du stirbst."
Jetzt schluchzte ich auf und stürzte nach vorne, in seine Arme.
"Du hättest mich sterben lassen sollen. Du hättest mich nicht retten dürfen. Es ist alles meine Schuld. Ich weiß, ich habe dich enttäuscht, ich habe mein Versprechen gebrochen. Aber du verstehst das nicht, Vince. Ich konnte einfach nicht mehr. Wie sollte ich mit all dem leben, was ich angerichtet habe?"
Beruhigend strich er mir über den Rücken. "Hey. Ich möchte, dass du dir eins merkst, ja? Du bist nicht schlecht. Du bist gut, du bist rein, du bist echt. Das warst du immer und bist du bis heute. Nichts von dem, was passiert ist, ist deine Schuld. Es ist diese kranke, kaputte Welt, die es hat passieren lassen. Du bist nur ein Mädchen, geboren mit einer Gabe, hineingeworfen in diese Welt, die nichts als Prüfungen für dich bereit gehalten hat. Aber du und dein Bruder, ihr habt etwas verändert. Mit euch als unsere Anführer waren wir in der Lage, die Welt zu verändern - zum Besseren. Niemand hat für möglich gehalten, was ihr geschafft habt. Nicht einmal ich. Und ich bin unendlich stolz auf euch - auf dich. Was ich getan habe, habe ich aus meiner eigenen, freien Entscheidung heraus getan. Es ist in Ordnung. Ich bin glücklich mit dieser Entscheidung. Ich habe es getan, weil ich in einer Welt, in der du nicht mehr bist, nicht leben wollte. Weil ich dich retten musste. Und das nicht, weil du das Heilmittel in dir trägst - sondern weil ich dich liebe wie eine Tochter. Ich weiß, ich bin nicht gut mit Worten gewesen, vor allem nicht, wenn es um Gefühle ging. Aber ich will, dass du weißt, dass du und deine Freunde mir alles bedeutet haben. Für euch habe ich gekämpft - haben wir alle gekämpft. Es ist nicht fair, dass du aufgegeben hast. Das meine ich nicht wegen des Heilmittels, das du in dir trägst oder wegen der Welt, die du retten wolltest, sondern weil du es verdient hast, zu leben. Mit deiner Familie um dich herum. Auch, wenn nicht alle bei dir sein können."
Stumm starrte ich ihn an. Tränen liefen mir die Wangen herunter. Seine Worte trafen mich tief, stachen mitten in meinem Herzen. Ich wusste, dass er recht hatte.
"Aber all die Menschen, die meinetwegen gestorben sind... Unschuldige Menschen...", flüsterte ich.
"Du meinst diese Menschen?", fragte Vince sanft und deutete hinter sich.
Mir stockte der Atem, als ich hinter ihn sah. Da war Mary, die jetzt zu uns herüber kam und ihrem Mann eine Hand auf die Schulter legte. Alby, Nick, Ben, Winston, Zart, Clint, Jeff, meine Läufer, George, alle anderen gefallenen Lichter.
Chuck und Teresa halfen mir auf die Füße. Zitternd lief ich auf sie zu, zögerte, als ich wenige Meter vor ihnen stehen blieb, Alby und Nick an der Spitze.
"Alby", flüsterte ich, dann brach meine Stimme und ich stürzte den beiden Anführern in die Arme.
Ich umarmte Winston, Zart, fiel Ben um den Hals.
All die Helden, gefallen im Kampf gegen WICKED, von George bis zu Teresa, standen jetzt um mich geschart. Sie waren alle da.

Till The WICKED End | A Maze Runner StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt