67. Aufbruch

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"Ey, könnt ihr das vielleicht auf heute Abend verlegen?", grummelte Thomas. "Ich könnte hier Hilfe gebrauchen."
Als ich mich umdrehte um ihm zu helfen sich aufzurichten, erkannte ich ein Grinsen auf seinem Gesicht.
"Hey, Tommy", sagte Newt und gemeinsam zogen wir ihn hoch. "Hast du gut geschlafen?"
"Hervorragend, Newty. Es ist sehr genugtuend, seine Erinnerungen endlich durch die eigenen Augen zu sehen und nicht immer nur durch die seiner Schwester", entgegnete er und zwinkerte mir zu.
Wir mussten alle lachen.
"Willkommen zurück in der Realität. Ich hoffe, du hast dich nicht zu sehr an die Vergangenheit gewöhnt. Morgen ziehen wir immerhin los in die Zukunft", gab ich lachend zu bedenken.
"Das bekomm' ich hin", grinste er.

Und dann war es tatsächlich soweit. Am nächsten Morgen, als ich auf Newt wartete, der noch im Badezimmer war, nachdem ich bereits geduscht hatte, wurde mir so richtig bewusst, dass wir diesen Ort in wenigen Minuten hinter uns lassen würden. Und ich wusste nicht, wann und ob wir überhaupt zurückkehren würden.
Newt hatte es wahr gemacht und nicht darüber reden wollen, was zwischen Gally und mir passiert war. Ich rechnete ihm seine Art damit umzugehen sehr hoch an. Genau genommen konnte ich mein Glück einmal mehr nicht fassen, dass ich diesen wunderbaren Menschen an meiner Seite haben durfte.
Als er fertig war und ich die Tasche, die ich mitnehmen würde, ein letztes Mal gecheckt hatte, machten wir uns auf den Weg zu unserem letzten Frühstück.
Im Speisesaal war es still. Ohne, dass jemand es angeordnet oder angekündigt hatte, fanden wir uns alle in unseren Teams zusammen. Newt und Gally schwiegen beide, ich konnte spüren, dass eine gewissen Spannung zwischen den beiden in der Luft lag. Fry Pan berichtete mir leise, wie wir vorgehen würden, wenn wir in Kanada angekommen waren.
"Wir haben alle Karten bekommen, auf denen Coleson die Abschnitte eingetragen hat. Die kreisen wir zusammen mit den anderen Teams ein und suchen so alles nach einzelnen Cranks und Horden ab. Danach kümmern sich andere Teams um die Geimpften, damit sie da draußen nicht völlig verloren sind."
Ich nickte. "Ich weiß immer noch nicht, was mit all diesen Menschen passieren soll. Denen, die nicht in der Nähe einer Stadt sind."
"Shepherd will sie zu den Städten transportieren, wo sie sie wieder aufbauen können. Um all das in die Hand zu nehmen, sind von WICKED einfach nicht mehr genug übrig."
Wieder nickte ich. "Dafür haben wir gesorgt, schätze ich."
"Du hast Recht."
"Und Lawrence. Hätte er nicht die ganze verdammte Stadt zerstört, sähe alles vielleicht ganz anders aus", meldete sich nun auch Gally zu Wort.
"Wenn ich mir vorstelle, dass alle Menschen in den Städten WICKED so gesonnen sind, mache ich mir irgendwie Sorgen", gab Fry Pan zu bedenken.
"Zu Recht, Pan. Aber wir bekommen das schon hin", munterte ich ihn auf. "Erstmal geht es ja auch noch nicht um die Städte."
"Zur Not schicken wir einfach dich und den Frischling rein, damit ihr das klärt, richtig, Kleine?"
"Sehr witzig", entgegnete ich, musste aber lachen.
Wir aßen auf und machten uns dann alle zusammen auf den Weg zum Hangar, wo Shepherd und die anderen Einheiten bereits auf uns warteten.
"Gut, sind alle da?", fragte sie. "Sehr schön. Dann geht es jetzt tatsächlich los. Ihr wisst, wie es läuft. Wir reisen mit drei Bergs für die Teams, pro Berg vier Teams mit den bekannten Einteilungen. Ihr habt die Koordinaten. Wir bleiben die gesamte Zeit über Funk in Verbindung. Passt auf euch auf. Wir schaffen das. Wir alle."
Jetzt trat sie zu Thomas und mir und breitete zu unserer Überraschung die Arme aus.
"Ihr beiden. Endlich können wir die Welt verändern. Passt auf euch auf. Wir sehen uns bald."
Sie drückte uns an sich.
"Ja, wir sehen uns bald", nickte ich, als sie uns wieder losließ. "Passen Sie auch auf sich auf, Sie alle."
Bei meinen letzten Worten nickte ich auch Avery zu, der ein Stück hinter Shepherd stand. Der Arzt nickte zurück.
Dann war es soweit. Wir wandten uns den Bergs zu und folgten Jorge und Fry Pan zu unserem, während Shepherd und Avery mit ihren Einheiten und denen, mit denen sie zusammenarbeiten würden, je ein anderes bestiegen. Mich durchfuhr ein aufgeregtes Kribbeln und ich realisierte erst jetzt so richtig, dass es wirklich losging, raus in die Welt, an die frische Luft, an die Sonne, als Jorge die Laderampe herunterließ und wir alle gemeinsam einstiegen.
"Jetzt geht es also wirklich los", sagte Brenda, als wir uns für den Start nebeneinander anschnallten.
"Wir verlassen WICKED wieder, ohne umgebracht worden zu sein", stellte Francesca auf meiner anderen Seite trocken fest.
"Wer hätte das Gedacht", lachte Minho.
"Noch sind wir nicht raus", gab Vince zu bedenken und machte dabei ein ernstes Gesicht, aber ich konnte ihm ansehen, dass er es nicht so ernst meinte, wie er klang. Er hatte in den letzten Tagen begonnen zumindest Shepherd ein wenig zu mögen, das wusste ich.
Unter unseren Füßen begann der Boden jetzt zu vibrieren, allerdings nicht, weil Jorge den Motor des Bergs startete, sondern weil der Hangar langsam begann, nach oben zu fahren. Der Erdoberfläche entgegen.
"Ich will ja echt nichts sagen, aber ich kann es kaum erwarten, die Sonne zu sehen", sprach Thomas da das aus, was ich schon die gesamte Zeit gefühlt hatte.
Ich nickte. "Lass sie sein, wie sie will. Wenn man sie nicht mehr hat, vermisst man sie definitiv."
Nach einer kurzen Weile streckte Fry Pan den Kopf aus dem Cockpit.
"Wir starten jetzt. Seid ihr alle angeschnallt?"
"Gesichert und bereit", gab Harriet zurück und grinste ihn an.
Er grinste mindestens genauso breit zurück und verschwand wieder bei Jorge. Kurz darauf begann der Boden noch stärker zu vibrieren und ich hörte die Rotoren, die sich immer schneller zu drehen begannen. Francesca tastete nach meiner Hand und ich drückte ihre.
"Wir schaffen das. Wir kommen da alle heile wieder raus", flüsterte ich, als ich mich zu ihr herüber beugte. "Du wirst das super machen."
Sie drückte meine Hand dankbar und lehnte ihren Kopf an meine Schulter.
Als wir Flughöhe erreicht hatten, lösten wir unsere Gurte, nachdem Fry Pan uns dies erlaubt hatte.
"Wir fliegen ungefähr zwanzig Stunden", durchbrach Vince die Stille, die nur hin und wieder von leisen Gesprächen kleinerer Gruppen unterbrochen wurde. "Das bedeutet in Kanada wird es später Abend sein, wenn wir ankommen. Wir schlafen hier und teilen uns dann am Morgen auf. Was wir auf jeden Fall vermeiden sollten ist, in der Nacht loszuziehen. Das gilt für die gesamte nächste Zeit. Die Dunkelheit mag manchmal unser Freund sein, aber gegen Cranks sind wir durch sie im absoluten Nachteil."
Wir nickten. Ich wusste genau, was er meinte. Schmerzlich erinnerte ich mich an unsere Flucht in dem Einkaufszentrum, als Jack getötet worden war und Winston sich infiziert hatte.
Irgendwann stand Thomas auf, machte es sich in einer Ecke gemütlich und schlüpfte in seinen Schlafsack. Es sah nicht so aus, als habe er vor zu schlafen, sondern eher als wollte er irgendetwas anderes tun, als herumzusitzen.
Ich erhob mich ebenfalls, schnappte mir einen Schlafsack und setzte mich zu ihm.
"Ach, Tommy", sagte ich nach einer Weile leise und lehnte meinen Kopf gegen seine Schulter.
"Ach, Anna", entgegnete er und lehnte seinen Kopf gegen meinen.
"Weißt du, damals, als du zu uns ins Labyrinth gerannt bist, dieser lebensmüde Frischling... Da hätte ich nie gedacht, dass wir einmal hier enden würden."
Ich konnte hören, dass er lächeln musste. "Am Anfang warst du echt nicht nett zu mir. Du hast versucht mir Angst zu machen, vor dem Labyrinth, an meinem ersten Abend."
"Ich bin eine schlechte große Schwester, tut mir leid", lachte ich.
"Du hast dich also auch dran erinnert. So ein Mist." Jetzt musste auch er lachen.
"Fünf Minuten älter."
"Fünf Minuten."
Grinsend beobachtete ich, wie Newt und Sonya es sich mit Harriet in einer anderen Ecke gemütlich machten. Vince redete leise mit Heath und Nico, und Minho und Francesca saßen mit Rachel und Aris zusammen, während Brenda und Gally stumm nebeneinander saßen und ihre Waffen reinigten.
"Sieh sie dir an. Hat nur ihre Waffen im Kopf, während alle anderen sich ihre Seelenverwandten suchen - die meisten haben sie sogar schon gefunden."
Ich wusste, dass er damit meinte, dass Gally das auch noch nicht gelungen war, überging diese Aussage allerdings und ging auf das viel offensichtlichere ein.
"Du bist wirklich ein verdammt dämlicher Strunk, weißt du das eigentlich, Tommy?"
Er hob seinen Kopf von meinem und sah mich überrascht an.
"Jetzt mal ehrlich. Hast du die emotionale Auffassungsgabe von einem Toastbrot?"
Noch immer sah er vollkommen verwirrt aus. Ich schüttelte mit dem Kopf, wusste nicht, ob ich ihn auslachen oder hauen sollte.
"Checkst du denn gar nichts?", fragte ich, langsam wirklich perplex.
"Was soll ich denn checken?"
"Tommy... Ich weiß wirklich, was Teresa dir bedeutet hat," - bei der lauten Erwähnung ihres Namens zuckte er leicht zusammen, aber ich ignorierte das und sprach unbeirrt weiter - "aber sie ist tot. Sie kommt nicht wieder. Nicht so wie Newt oder Gally. Du bist nicht der Einzige, dem diese Tatsache wehtut. Aber wir müssen lernen, damit zu leben, dass wir Menschen verloren haben, die uns wichtig waren, die wir geliebt haben. So wie wir unsere Eltern gehen lassen mussten, so wie wir Alby, Chuck und Winston haben gehen lassen. Wir dürfen trauern, das müssen wir sogar, damit wir damit klarkommen können. Aber dann müssen wir weitermachen. Sieh mich an, ich wäre niemals ganz über Newts Tod hinweg gekommen, so wie du niemals über Teresas Tod hinweg kommen wirst, aber ich wollte weitermachen. Das geht nicht von jetzt auf gleich - aber es geht. Und du bist nicht alleine. Ich werde immer bei dir sein. Wir alle werden das. Das hast du besiegelt, als du damals zu Minho und mir ins Labyrinth gerannt bist, ganz egal ob du letztendlich mein Bruder bist oder nicht. Das wäre immer so gewesen."
Ich konnte in seinen Augen erkennen, dass ihn das, was ich da sagte, wirklich berührte. Und trotzdem verstand er einfach nicht, was ich versuchte, ihm durch die Blume zu sagen.
"Verdammt, Tommy, siehst du denn nicht, wie sie dich anschaut?"
Endlich zeigte sich eine Spur von Erkenntnis in den Augen meines Bruders.
"Du meinst...?"
"Nein, ich meine nicht, ich weiß. Was denkst du denn, worüber wir so reden? Meinst du echt, in Brendas Kopf dreht sich alles nur um Waffen und Autos? Sie ist eine Frau, so wie Francesca und ich und Harriet und Sonya und Rachel. Und bei uns findest du es ganz offensichtlich nicht komisch, dass wir unsere 'Seelenverwandten' gefunden haben, wie du es eben genannt hast."
"Ja schon, aber.."
"Nichts aber. Es ist schon so, seit wir ihr und Jorge begegnet sind. Spätestens, nachdem du sie als ihr persönlicher Held gerettet hast. Sie vergöttert dich. Sie ist sich nur selbst zu viel wert als dass sie sich dir zu Füßen werfen würde. Und das ist auch ganz richtig so, finde ich."
Jetzt begann er langsam zu nicken.
"Von der Seite habe ich es noch nie betrachtet. Ich meine, es gab da diesen Kuss, bei Marcus' Party, das weißt du sicherlich, irgendwann ist es bestimmt in meinen Erinnerungen aufgetaucht. Aber selbst da konnte ich nur an Teresa denken."
"Und das ist okay. Es ist vollkommen okay. Trotzdem musst du anfangen, weiterzumachen. Du darfst nicht dein ganzes Leben lang die Augen verschließen und an etwas festhalten, was nicht mehr ist. Du hast meine Simulationen gesehen, du weißt, dass sie auch für mich noch immer sehr wichtig ist, auch wenn ich das oft nicht wahrhaben will. Aber Brenda lebt, sie ist hier bei uns und sie würde alles für dich tun. Lass das nicht einfach so verstreichen. Sie ist ein so toller Mensch."
Wieder nickte Thomas, jetzt stärker.
"Du hast Recht, Anna."
"Natürlich habe ich Recht. Ich bin eine Frau", lachte ich jetzt wieder. "Aber mal ehrlich. Mach was draus. Glaub mir, sobald du bereit bist, wird sie es auch sein."
Mit diesen Worten lehnte ich meinen Kopf wieder gegen seine Schulter und schloss die Augen, bevor ich spürte, wie er meine rechte Hand griff. Und als würde er sich von ihr verabschieden wollen, tauchte ich mit ihm ein letztes Mal in seine Erinnerungen an Teresa ein.

Till The WICKED End | A Maze Runner StoryWo Geschichten leben. Entdecke jetzt