14 | Segel setzen

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Langsam schwappen die Wellen am Strand vor und zurück. Die Sonne schaut gerade so über den Horizont und ihre Strahlen tauchen das Meer in goldenes Licht.

Was würde ich dafür geben, damit dieser Anblick real und nicht bloß eine Animation auf dem digitalen Fenster meines Zimmers wäre. Was würde ich dafür geben, in diesem Moment wie immer zuhause am Hafen in den Tag zu starten, anstatt bloß hier auf meinen Tod zu warten. Doch was kommt, ist unausweichlich. Heute fällt der Startschuss für die 51.Hungerspiele.

Plötzlich klopft jemand zaghaft an meiner Zimmertür. Zu meiner Überraschung ist es nicht Saphire, sondern Mags. Es ist eines der wenigen Male, dass ich sie nicht lächeln sehe, doch trotzdem wirft sie mir einen aufmunternden Blick zu. Langsam lässt sich meine Mentorin auf meiner Bettkante nieder.

„Ich weiß, wie du dich fühlst. Einst war ich auch dort."

Bitter schlucke ich den Kloß in meinem Hals herunter.

„Danke für deine Ratschläge. Ich...Ich weiß das wirklich zu schätzen." sage ich nach einer Weile. Mags sieht mich nur wehmütig an.

„Vor dir liegt eine viel größere Aufgabe." sagt sie langsam und sieht mir in die Augen. Meint sie damit bloß die Spiele? Oder weiß sie etwa von dem, was Snow mir aufgetragen hat?

„Ich habe mitbekommen, dass du nach der Prüfung gefehlt hast. Ich weiß nicht, was der Präsident dir gesagt hat, doch sei dir versichert, du bist nicht die erste, der so etwas widerfährt. In den letzten Jahren hat er häufiger mit einigen Tributen gesprochen - solange es etwas gab, mit dem er sie belohnen konnte. Nun, ich kann mir denken, dass es mit deiner kleinen Schwester zutun hat...deshalb möchte ich dir nur noch einen Rat geben. Höre auf das, was dein Herz dir sagt."

„Danke." wispere ich schließlich und eine Gänsehaut überzieht meinen Körper.

Danach versinke ich kurzerhand in einer Umarmung mit Mags. Es tut unerwartet gut. Doch als wir uns wieder voneinander lösen, spüre ich, wie mich die Kälte wieder einholt.

Und als Mags sich von mir verabschiedet und bald leise die Tür hinter sich schließt, fühlt es sich an, als hätte mich jemand von einer hohen Klippe hinunter in die stürmischen Fluten der See geschubst.


Eine Weile später verlasse auch ich mein Zimmer und gehe hinüber ins Wohnzimmer.

Dort sitzen bereits Saphire und Jacek, aber zum ersten Mal ist es totenstill. Der Blick aus den Glaswänden hinaus ins Kapitol zeigt, dass dunkle Wolken den Himmel verfinstert haben.

Keiner sagt ein Wort, als die Avoxe das Frühstück auftragen. Jeder weiß, was uns bevorsteht. Zum Glück schaffe ich es noch, ein bisschen was zu essen - wer weiß, wann ich das nächste mal etwas bekomme.

Danach scheucht uns Saphire bereits aus unserer Etage, doch ihre Stimme klingt nicht so fest wie sonst. Mit einem aufgesetzten Kapitolslächeln ruft sie: „Schön, dann lasst uns keine Zeit verlieren! Die Hovercrafts warten schon auf euch." Mit diesen Worten endet meine Zeit im Kapitol. Schließlich sind wir nur noch eine Fahrt mit dem Aufzug vom Abflug entfährt.

Nach einer stillen Fahrt öffnen sich die Aufzugtüren und davor warten bereits Friedenswächter auf Jacek und mich. Mir bleibt bloß noch ein kurzer Moment, um noch einmal einen Blick zurück zu Saphire zu werfen, bevor sich die Fahrstuhltüren schließen und mir bloß ihr letzter blasser Gesichtsausdruck im Gedächtnis bleibt.

Seite an Seite gehen Jacek und ich auf das Hovercraft zu, das bereits ein paar Meter über dem Boden schwebt. Wind peitscht mir ins Gesicht und der Lärm der Turbinen ist unfassbar laut. Eine Leiter fährt aus dem dunklen Inneren des Flugzeugs hinunter und kracht polternd auf dem Boden auf.

Hypnotisiert steige ich sie hinauf und es dauert nicht lange, bis ich im Inneren des Hovercrafts angelangt bin. Dort wartet bereits eine Friedenswächterin auf mich, die wortlos meinen Arm packt und eine Spritze hineinsticht.

„Das ist dein Aufspürer." sagt sie kühl, während ich versuche, aufgrund des kurzen Schmerzes nicht das Gesicht zu verziehen.

Danach schiebt sie mich noch weitere in den Hohlraum des Flugzeugs, wo ich mich schließlich auf einem Sitz niederlassen und anschnallen soll. Und ich wäre überall lieber als hier. Denn neben und vor mir sitzen weitere Tribute, ich zähle nach und komme auf zwölf, mich eingeschlossen. Obwohl das nun startende Flugzeug auch hier im Inneren einen Höllenlärm veranstaltet, scheint trotzdem eine eiserne Stille zwischen uns zu herrschen.

Aus dem Augenwinkel beobachte ich die Gesichter der anderen. Neben mir hockt das kleine Mädchen aus acht und stumme Tränen fließen ihre Wangen hinab. Mein Herz will ihre Hand nehmen, wie ich es sonst immer bei meinen Geschwistern tue, doch die Entfernung zwischen unseren Sitzen ist zu groß. Zudem beobachten Friedenswächter jede meiner Aktionen.

Etwa eine halbe Stunde später finde ich mich in einem Raum wieder, der an das Vorbereitungszimmer im Kapitol erinnert. Gelbe, geflieste Wände und ein grelles Licht lassen mich frösteln. Und vor allem der Anblick auf die gläserne Röhre, welche mich gleich hinauf in die Arena transportieren wird, lässt mein Herz unkontrolliert schnell schlagen.

Ich erschrecke, als sich sich plötzlich die Tür öffnet und Jake hereinkommt. Ich bin erleichtert, dass seine nervenaufreibende Partnerin nicht dabei ist. Wortlos reicht mir mein Stylist die Kleidung, die er zuvor noch über seinem Arm getragen hat und ich ziehe sie an.

„Eine leichte Jacke, die deine Körperwärme speichert und dadrunter ein schlichtes Top. Die Hose ist aus einem besonders robusten Stoff, der unterschiedlichen Landschaftstypen trotzen kann." kommentiert er währenddessen.

Mit zittrigen Fingern fahre ich schließlich über das weiche Material meiner Kleidung. Er scheint beinahe leicht rutschig - was das wohl zu bedeuten hat? Gibt es womöglich starke Regenfälle in der Arena? Jakes flache Stimme dringt wieder zu mir durch, während er an meiner Frisur herumhantiert.

„Für deine Haare reicht ein geflochtener Zopf, den wir am Hinterknopf verknoten."

Danach weiß ich nicht mehr, ob es Sekunden oder Stunden sind, in denen mich Jake bloß wortlos beäugt und immer wieder Kleinigkeiten an meinen Haaren ausbessert. Schließlich scheint er fertig zu sein, und zum ersten Mal sehe ich ihm wieder in das beinahe silbrig glänzende Gesicht. Er sieht schon beinahe traurig aus, doch plötzlich wandeln sich seine Züge.

„Ich habe noch etwas für dich." sagt er sanft und holt etwas aus seiner Tasche.

Es ist doch tatsächlich Annies Armband! Selyn hat es mir ja für das Interview abgenommen, doch Jake scheint es offensichtlich für diesen Moment aufbewahrt zu haben.

Ein warmes Gefühl macht sich in mir breit, als er es um mein Handgelenk bindet. Es ist fast, als würde ich ein Flüstern des Meeres von nun an wieder bei mir tragen. Es ist das letzte, was mir noch von dort geblieben ist. Jake scheint mein Lächeln zu freuen und er öffnet den Mund, um etwas zu sagen - doch eine metallene Stimme unterbricht ihn.

„Noch dreißig Sekunden. Begeben Sie sich auf Position."

Kaum sind die Worte aus den Lautsprechern verstummt, schiebt sich mit einem Zischen die Tür der Glasröhre auf, sodass ich hineinsteigen kann.

Als wäre ich ein Fisch, der bloß machtlos an einer Angelschnur hängt, tragen mich meine Füße dort hinein, ehe sich das frisch polierte Glas um mich herum schon wieder verschließt. Ich werfe noch einen letzten Blick zurück zu Jake, dessen Stimme nun nur noch gedämpft zu mir durchdringt.

„Ich glaube an dich." sagt er und betont jedes Wort einzeln.

Ich weiß nicht, ob ich es noch schaffe, ihm einen dankbaren Blick zuzuwerfen, denn das Rauschen in meinen Ohren wird immer lauter. Doch es ist nicht das Rauschen des Meeres, sondern das des Sturms, der mir bevorsteht.

Das einzige, was ich jetzt noch wahrnehme, ist mein pochender Herzschlag. Die Metallplatte erzittert. Ich fahre nach oben. Und die Stimme von Claudius Templesmith verkündet laut:

„Ladies und Gentlemen, mögen die 51. Hungerspiele beginnen!"

Tribute von Panem | Flüsternder OzeanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt