32 | Gewinner und Verlierer

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Mit einem Ruck ziehe ich die sonnengelben Vorhänge zur Seite, sodass die kühle Brise, die an diesem Morgen weht, bis ins Haus zu spüren ist. Ein paar Wolken finden sich auf dem Himmel wieder, kleine weiße Farbtupfer auf dem unendlichen Blau. Für einen Moment schließe ich die Augen und lausche den Geräuschen des Morgens. Das entfernte Rauschen des Meeres, die ersten Möwen, die ihre Kreise über das Dorf ziehen, das erste warme Stimmengewirr vom Hafen. Könnte ich doch nur für immer in diesem Moment verweilen, in diesem Moment, der mich vergessen lässt, welche Narben uns die Zeit zugefügt hat.

Seufzend wende ich mich wieder vom Fenster ab und trete zurück ins Wohnzimmer. Der alte Holzboden knarzt unter meinen Füßen, als ich auf den prasselnden Kamin zugehe. Vielleicht kann ich dort ein wenig meine kalten Hände wärmen.

Doch da steht sie auf einmal im Türrahmen. Das kleine, beinahe unsichtbare Mädchen, die schwarzen Haare matt über die Schultern fallend. Sie hat ein hellblaues Band in ihren Zopf geflochten, das die selbe Farbe wie ihre Augen hat. Eine blasse Träne kullert die Wange des Kindes hinab und im nächsten Moment finde ich mich in ihrer Umarmung wieder. Sanft streichen meine Finger über ihren Kopf, was dem Mädchen trotz der Trauer ein kleines glückliches Glucksen entfahren lässt. Ich spüre, wie sich mein Herz schmerzhaft zusammenzieht.

Heute ist der Tag. Genau heute vor einem Jahr sind sie gestorben. Ich weiß nicht, wie lange ich noch tröstend über den Kopf des Kindes streiche, unsere Arme genau so eng miteinander verschlungen wie unsere Schicksale. Nach unbestimmter Zeit löse ich mich wieder aus ihrer Umarmung und gehe in die Knie, damit ich dem Mädchen in die Augen sehen kann. Noch immer zieren Tränenspuren ihre Wangen.

„Ich bin hier." wispere ich kaum hörbar und streiche dem Kind eine schwarze Haarsträhne aus der Stirn.

„Ich bin hier. Bei dir." wiederhole ich und blicke direkt in die großen, hellblauen Augen.

„Immer?" flüstert das Mädchen ganz leise.

Ich nehme ihre Hand und sofort wickeln sich die kleinen Finger um meine.

„Für immer. Egal, was geschieht, ich bin immer da. Ich werde dich immer beschützen. Das verspreche ich dir, Aline." 


Alle Luft ist aus mir gepresst.

Librae, du musst mit Kraft werfen! Der Speer soll den Gegner durchbohren, nicht bloß streifen! Kraft, Librae, Kraft! Snow wollte es von Anfang an so, jetzt musst du die Gelegenheit nutzen!

Für Aline!

Und ich werfe, ich werfe mit aller Kraft. Ein erstauntes Gurgeln bestätigt - der Dreizack hat sein Ziel gefunden. Erleuchtet von einem Blitz am Horizont sehe ich Jacek nach hinten taumeln, das schwarze Metall meines Dreizacks mitten in seinem Körper.

Alle Geräusche sind aus meiner Welt gewichen. Es ist so leise, zu leise. Kein Regen. Keine Wellen. Keine Worte. Meine Lippen versuchen sie zu formen, doch nichts geschieht.

Nein!


Mein Schrei dringt erst aus der Kehle, als Jacek am Ufer des Sees auf dem Boden aufschlägt. Ich taumele vorwärts, die Augen vor Panik weit aufgerissen.

Ich will nach vorne rennen, meine Arme um Jacek schlingen, ihn wegzerren. Wer hat den Dreizack geworfen? Wer auch immer es war, er muss hier irgendwo sein...

Doch meine Beine sind wie festgefroren, genau so wie das Blut in meinen Adern. Ich will schreien, ihn warnen, doch meine Kehle ist wie von einem Fischernetz zugeschnürt. Ich muss etwas tun! Irgendetwas! Unbeholfen stolpere ich einen Schritt vorwärts. Verschwommen nehme ich wahr, wie ich Jaceks Arm greife und im vom Ufer fort ziehe, fort, einfach nur fort...

Tribute von Panem | Flüsternder OzeanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt