17 | Eisblau

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Ein warmer Wind streicht um die Häuser von Distrikt vier und laut krachend brechen die Wellen am Strand. Die Abendsonne taucht den Horizont in goldenes Licht, doch das Meer scheint heute dunkler und tiefer als sonst. Müde schlendere ich über die blühende Salzwiese, die sich schon seit Jahren über die hohen Klippen am Strand erstreckt. Es ist einer der letzten Sommerabende und daher bin ich noch einmal ganz alleine zum Strand gekommen, um von dort aus den Sonnenuntergang zu beobachten.

Meine Blicke folgen den tosenden Wellen, die so weit unter mir beinahe schon winzig wirken. Doch selbst hier oben kann man das Schäumen der Gischt und das Rauschen des Ozeans hören.

Ich schließe für einen Moment die Augen und lasse die letzten Sonnenstrahlen mein Gesicht wärmen. Dieses Glück wünsche ich mir für alle Tage. Die Abendsonne, der Strand, das Flüstern des Ozeans - plötzlich durchbricht ein greller Schrei die friedliche Ruhe.

Ich reiße die Augen auf und sehe mich nach der Richtung um, aus der er stammt. Meine Augen suchen die dunkelblauen Wellen unter mir ab - doch dort ist nichts. Niemand. Habe ich es mir womöglich eingebildet? Doch da - ein erneuter Schrei, der direkt aus den Wellen zu stammen scheint. Gefährlich nah trete ich an den Klippenrand - und dann sehe ich es.

Zwei Gestalten, inmitten der tosenden Fluten.

Eine dunkle Welle bricht krachend über ihnen zusammen und sie verschwinden wieder im dunklen Meer. Es dauert viel zu lange, bis sie wieder auftauchen. Keine Sekunde später verschwinden ihre Körper erneut in der dunklen Masse. Ein eisernes Fischernetz scheint sich um meinen Hals zu schnüren, als ich realisiere, dass die beiden gerade ertrinken. Ein Gefühl, das ich nicht benennen kann, packt mich und ich trete ein paar Schritte zurück. Mein Herz schlägt bis zum Hals, als ich all meinen Mut zusammennehme, anlaufe und - springe.

Krachend schlagen die Fluten über meinem Kopf zusammen und ziehen mich mehrere Meter in die Tiefe. Die Wassermassen scheinen mich beinahe zu erdrücken, und schier unendlich umgibt mich Dunkelheit. Es kostet Kraft, zu viel Kraft, wieder zur Wasseroberfläche zu schwimmen, doch schließlich atme ich wieder die kühle Abendluft ein. Es ist nichts zu hören außer dem pfeifenden Wind und dem Krachen der Wellen um mich herum. Wo sind die zwei Kinder? Haben die Fluten sie womöglich schon endgültig verschlungen? Der Gedanke versetzt mich in solche eine Angst, dass ich keine Sekunde später in die Richtung los schwimme, in der ich die beiden gesehen habe. Der unfassbar starke Wellengang reißt mich jedoch immer wieder hinab in die Tiefe und eiskaltes Salzwasser schlägt mir ins Gesicht. Meine Augen brennen und meine Sicht verschwimmt - doch da sehe ich zwei bunte Punkte am Horizont aufblitzen. Es sind die Kinder!

Mit einem Mal packt mich neue Hoffnung und mit aller Kraft schwimme ich gegen die Fluten. Immer seltener tauchen die Köpfe der beiden aus den Wellen auf - und das Meer treibt sie immer weiter nach draußen. Umso verbissener kämpfe ich gegen den Ozean an.

Ohne eine Pause schwimme ich weiter und weiter auf den rötlichen Horizont zu. Tatsächlich erkenne ich jetzt sogar, dass es sich um ein kleines Mädchen und einen etwas älteren Jungen in der Ferne handelt. Immer wieder reißt der Wellengang die Kleine in die Tiefe, der Junge schreit bloß nach ihr, bis auch ihn die Wucht einer Welle überwältigt. Jedes Mal, wenn sie untertauchten, denke ich, es wäre um sie geschehen.

Ich bin schließlich fast da, als das schwarzhaarige Mädchen sich zu bewegen aufhört. Langsam verschluckt das dunkle Meer sie. Ich höre bloß noch den verzweifelten Schrei des Jungen - dann tauche ich ab. Eiskalte Wassermassen umgeben mich, doch ich halte meine Augen weit offen. Sofort entdecke ich das Mädchen, das bleich wie eine Tote auf den Meeresgrund zusinkt. Mit kräftigen Zügen tauche ich zu ihr vor, schlinge meine Arme um ihre Taille und schwimme wieder nach oben. Als wir auftauchen, reißt sie die Augen auf und holt keuchend Luft.

Tribute von Panem | Flüsternder OzeanWo Geschichten leben. Entdecke jetzt