Am nächsten Morgen werde ich bereits früh wach.
Ein seltsamer Albtraum hat mich aus dem Schlaf gerissen.
Annie, Lim, Aline und ich sind über die Salzwiese an unserem Haus gelaufen. Wir wurden verfolgt, doch egal, wie sehr ich es versuche, ich kann mich nicht mehr erinnern, von wem. Was ich jedoch noch klar weiß, ist, dass plötzlich die anderen Tribute aufgetaucht sind und unserem Verfolger laut zugejubelt haben, als eine metallene Stimme verkündete, dass die 51. Hungerspiele begonnen haben.
Ich weiß, dass es nicht real war und trotzdem habe ich das Gefühl, die Stimme gerade eben noch gehört zu haben. Die ersten Sonnenstrahlen fallen in mein Abteil und künden den Morgen an. Froh, dass ich nun nicht noch weiter über den Traum nachdenken muss, schiebe ich die weiche Bettdecke zur Seite und stehe auf.
Etwa eine Viertelstunde später habe ich die riesige Dusche in meinem Badezimmer zum ersten Mal benutzt und stehe jetzt vor dem großen Kleiderschrank neben dem Bett.
Als ich die glänzende Schiebetür vorsichtig zur Seite schiebe, springt mir ein Meer aus Farben ins Auge. Unzählige Kleidungsstücke in allen erdenklichen Farben und Formen hängen fein säuberlich an einer Kleiderstange.
Doch ich bin jetzt schon überfordert und habe kaum Lust, mir all die kapitolsgemachten Stücke anzusehen. Das einzig „normale" was ich schließlich finde, ist ein schwarzes T-Shirt und eine dunkelblaue Hose, beides passt seltsamerweise perfekt. Einige Minuten später gehe ich aus dem Abteil, bevor Saphire mich womöglich noch dazu bringt.
Doch der Zug scheint noch ganz still, bloß das sanfte Ruckeln über die Gleise ist zu hören. Ich nehme mir vor, mich auf die Suche nach Mags zu machen, um mit ihr über die Spiele zu sprechen. So sehr es mir auch davor graut, ich muss mir einige Ratschläge holen. Denn mir wird immer klarer – wenn ich nicht zurückkomme, werden meine Geschwister nicht überleben.
Als ich schließlich im Hauptabteil von gestern Abend angelangt bin, sehe ich, dass Mags tatsächlich bereits dort ist. Auf der Leinwand ihr gegenüber ist schon das morgendliche Kapitolprogramm eingeschaltet worden, doch Mags scheint es nicht zu beachten.
Sie sitzt auf einem der vielen blauen Sofas, die Beine angewinkelt und ihre Arme herumgeschlungen. Verträumt sieht sie aus dem Fenster und beobachtet die vorbeirasenden Flüsse und Täler. Sie sieht beinahe aus wie ein sorgloses Kind, wenn sie dort so sitzt.
Und doch ist sie eine alte Frau. Eine alte Frau, die zwar stets lächelt, doch ich glaube, dass ihr Herz mit tiefen Narben versehen ist.
Sie scheint mich entdeckt zu haben und schnell richte ich meinen Blick auf den bereits gedeckten Frühstückstisch, damit es nicht aussieht, als hätte ich sie beobachtet.
Doch Mags scheint das kaum zu stören. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie mir ein Lächeln zuwirft und mich schließlich mit einer Handbewegung zu sich winkt. Ich tappe auf sie zu und sie deutet mir an, mich Platz zu nehmen.
Als ich in einer der weichen Sessel ihr gegenüber versinke, füllt sich mein Kopf nur so mit Fragen. Was will ich von ihr wissen? Etwas über die Arena? Über Strategien? Über Bündnisse?
Doch zu meiner Erleichterung beginnt Mags, zu reden und es ist das erste Mal, dass ich sie sprechen höre. In einer leisen, sanften Stimme sagt sie:
„Ich habe von deiner Schwester gehört."
Die Worte sind wie ein Stich ins Herz, doch Mags nimmt meine Hand. Seit dem Angriff auf Aline ist es das erste Mal, dass ich das Gefühl habe, dass jemand mich hört. Dass jemand mich versteht. Der Gedanke an Aline ist schmerzhaft, doch das Gefühl, dass jemand da ist, der das weiß und dem es nicht egal ist, ist sehr beruhigend.
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Tribute von Panem | Flüsternder Ozean
Fanfiction»Das ist der einzige Vorteil, den ich habe. Das Wasser.« Was tust du, wenn du für die Hungerspiele ausgewählt wirst und von nun an das Schicksal deiner gesamten Familie allein von dir abhängt? Das Glück verlässt Librae Olgivy, eine Waise aus Distri...