„Meine sehr verehrten Damen und Herren - soeben sind die Bewertungen unserer Tribute eingetroffen! Sie sind sicherlich genau so gespannt wie ich! Wer erhält die höchste Punktzahl und sichert sich damit einen Favoritenplatz? Wer erhält die niedrigste und was mag das bedeuten? Werden wie üblich die Karrieretribute stark sein oder wird uns womöglich ein Tribut aus den äußeren Distrikten überraschen?"
Caesar Flickerman lacht in die Kamera.
Seine gute Stimmung ist beinahe schon ansteckend und doch sitzen mir die letzten Stunden im Nacken wie eine eiskalte Hand. Als mich die Friedenswächter schließlich wieder zurück in unsere Etage gebracht haben, hatte ich zum Glück ein wenig Zeit, um mir eine Ausrede für mein Verschwinden zurechtzulegen, nämlich, dass Selyn noch einige Abmessungen für das Interviewkleid an mir vornehmen wollte.
Ich weiß nicht, ob Jacek mir auch nur ansatzweise geglaubt hat, doch ich habe ihm sowieso seit dem Gespräch mit Snow nicht mehr in die Augen gesehen. Wie könnte ich das auch? Wie könnte ich dem Jungen ins Gesicht sehen, den ich womöglich töten werde?
Ich wage es garnicht, den Gedanken zuzulassen. Ich wüsste sowieso nicht, ob ich es über mich bringen würde, in der Arena jemanden umzubringen - doch trotzdem, das ist es ja. Jetzt, wo ich weiß, was mir bevorsteht, ist es noch viel schlimmer.
Ich schlucke die Angst hinunter und konzentriere mich wieder auf den Fernseher. Saphire, die Stylisten, Mags und Jacek scheinen allesamt an den Lippen des Moderators zu hängen - offenbar sind sie genau so gespannt, wie er.
Gebannt richte ich meinen Blick auf den Bildschirm, wo gerade neben dem Wappen aus Distrikt eins ein bewegtes Bild von Cora erscheint. Mit einem ehrgeizigen Blick scheint sie mir direkt in die Seele zu blicken, und ich möchte mir garnicht ausmalen, wie es sein wird, womöglich in der Arena auf sie zu treffen.
„Cora gehört sicherlich nicht nur zu meinen Favoriten, nicht wahr, liebe Zuschauer? Nun, deshalb bin ich nun umso gespannter, ihre Punktzahl zu hören! Also - sie erhält eine Punktzahl von Neun!"
Beeindruckt schlucke ich den Kloß in meinem Hals hinunter, als auch ihr Distriktpartner eine Neun erhält. Bei Karrieros ist das zwar ziemlich normal - doch trotzdem, das ist beängstigend gut. In Distrikt zwei erhält Cooper, der laut Caesar bereits Favorit auf den Sieg ist, sogar zehn Punkte, genau wie seine Distriktpartnerin Lahela. Aus dem Augenwinkel sehe ich, wie Jacek zufrieden über die Ergebnisse seiner Verbündeten nickt.
Die Bewertung für beide Tribute aus Distrikt drei geht beinahe gänzlich unter nach den Karrieros, und so schnell wie sie verkündet wurden, habe ich sie auch schon wieder vergessen.
„So, kommen wir nun zu unserem schönen Meeresdistrikt! Als erstes bin ich nun gespannt auf Librae Olgivy! Im Gegensatz zu ihrem Distriktpartner hat sie sich nicht freiwillig gemeldet und schließt sich auch dem Karrierobündnis nicht an! Hat Librae also bloß bereits aufgegeben oder steckt in ihr eine Kämpferin, die bloß darauf wartet, uns in der Arena alle zu überraschen? Nun, ich versichere Ihnen, liebe Zuschauer, Stärke hat Librae zumindest heute schon einmal bewiesen - denn sie erhält von den Spielmachern neun Punkte!"
Fassungslos starre ich den großen Bildschirm an, auf dem die große Neun unter meinem Portrait angezeigt wird. Eine Neun? Ich? Offenbar konnte ich die Spielmacher mit meiner Fallenaktion beeindrucken.
Langsam dringt der Applaus vom Team, Mags und Jacek zu mir durch und ich spüre, wie Saphire meine Hände fest drückt, während sie mir entgegenstrahlt. „Perfekt, meine Liebe, perfekt!" flötet sie und scheint beeindruckter als ich selbst zu sein.
Ich blicke zu Mags hinüber, die mir ein stolzes Lächeln schenkt. Dankbar nicke ich ihr zu. Ich bin froh, dass sie mich ermutigt hat, mir selbst zu vertrauen, denn das hat mir in der Prüfung wirklich weitergeholfen.
Schließlich wird Jaceks Gesicht auf dem Bildschirm eingeblendet und ich bin froh, dass die ganze Aufmerksamkeit nun nicht mehr auf mir liegt.
„Jacek, ebenfalls aus Distrikt vier erhält - zehn Punkte!"
Wow. Ich soll also einen Tribut töten, der solch eine hohe Punktzahl erreicht hat. Schnell verdränge ich den Gedanken wieder. Ich soll einen Menschen töten, das ist das schlimme. Um wen es sich dabei handelt und welche Bewertung er erhalten hat, ist doch völlig egal!
Was haben diese Spiele bloß jetzt schon aus mir gemacht?
Saphires lauter Jubel reißt mich aus meinen Gedanken und automatisch falle auch auch in den Beifall für Jacek mit ein. „Wow, ihr beiden seid jetzt schon meine Sieger!"
Ich unterdrücke ein bitteres Lachen. Als könnten wir beide gewinnen.
Die Punktzahlen sowie Namen der nächsten Tribute kann ich mir kaum merken. Ich registriere bloß, dass Willow, als dreizehnjährige aus Distrikt sieben, mit acht Punkten eine wirklich außergewöhnliche Bewertung bekommt. Obwohl es mich persönlich bei ihr kaum noch wundert, wird sie den Zuschauern spätestens jetzt im Gedächtnis bleiben.
Auch bei Skys Bewertung höre ich genauer hin - und auch sie wird zur Überraschung an diesem Abend, als sie wie ich eine satte Neun erhält.
Nachdem Caesar schließlich auch die beiden Kinder aus zwölf knapp abgefrühstückt hat, fällt eine Last von meinen Schultern. Ich habe die vergleichsweise zweithöchste Punktzahl erhalten. Damit sind mir zumindest ein paar Sponsoren sicher. Doch andererseits heißt das, dass mich die Karrieros in der Arena erst recht nicht ignorieren werden. Und mit ihnen Jacek.
Ich weiß genau, was das bedeutet. Die Stimme von Caesar Flickerman holt mich wieder zurück ins Wohnabteil.
„Wow, das waren aber mal außergewöhnliche Bewertungen, nicht wahr? Wie üblich konnten uns die Karrieretribute beeindrucken, aber auch einige andere Tribute sollten Sie definitiv nicht vergessen! Wie auch immer, jetzt trennen Sie und die Tribute bloß noch ein Ereignis vom Start der Hungerspiele! Morgen Abend sehen Sie live die Interviews mit allen Tributen. Das ist Ihre letzte Chance, sie noch einmal richtig kennenzulernen und endgültig zu entscheiden, auf wen Sie ihr Geld setzen! Also ich habe definitiv schon ein paar Favoriten!"
Kaum ist Caesars letztes Wort verklungen, schaltet Saphire den Fernseher ab, nur um Jacek und mich anschließend erneut zu loben.
„Ach, eine Neun und eine Zehn - ihr beiden seid wirklich perfekt!"
Das Problem ist nur, dass es sich höchstens für einen von uns lohnt.
Der Rest des Abends vergeht schnell: obwohl ich von den ganzen Eindrücken und Erlebnissen des Tages todmüde bin, bestehe ich noch auf einige Ratschläge von Mags für die Interviews.
Danach muss ich eine weitere Stunde alleine mit Saphire verbringen und allein das könnte mir schon den Nerv rauben. Dazu kommt, dass sie mich mit unzähligen blöden Vorbereitungsfragen quält, von denen ich mir sicher bin, dass keine davon auch nur im geringsten morgen gestellt werden wird. Trotzdem versuche ich, mir jedes ihrer Worte einzuprägen, doch meine Nervosität lässt bloß sie wie Wassertropfen an mir abperlen.
Stattdessen schwirrt mir ein Lied im Kopf, was Mom meinen Geschwistern und mir früher immer vorgesungen hat, wenn wir nicht einschlafen konnten. Irgendwie erinnern mich die Zeilen an meine Situation im Moment.
Ich steuere mit meinem Boot auf einen Meeressturm zu, dem ich nicht ausweichen kann, egal, wie sehr ich es versuche. Wenn ich den Sturm also nicht umschiffen kann, muss ich mich an den Mast binden und auf das Beste hoffen.
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Tribute von Panem | Flüsternder Ozean
Fanfic»Das ist der einzige Vorteil, den ich habe. Das Wasser.« Was tust du, wenn du für die Hungerspiele ausgewählt wirst und von nun an das Schicksal deiner gesamten Familie allein von dir abhängt? Das Glück verlässt Librae Olgivy, eine Waise aus Distri...