22. Kapitel

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     Wir saßen im „Zug", der aus einem Traktor verkleidet als Zug bestand und ein paar kleinen Anhängern, in denen man sitzen konnte. Mein Vater war da. Silan nicht. Ich versuchte seine Worte aus meinem Kopf zu drängen. »Dein Vater hat schon recht. Ich hatte nicht das Vorrecht mit dir allein zu feiern. Deswegen bleibe ich zurück.« Den Hunger, den ich vorhin noch verspürt hatte, war weg. Stattdessen war da diese Leere in mir, während ich lustlos nach vorne starrte, als meine Eltern das Ticket bis nach Cres zahlten. Alex und seine Eltern saßen ein paar Wagons weiter. Mein Vater sah mich an, das spürte ich, doch ich sah ihn nicht. Ich verstand nicht, was so schlimm daran war, wenn Silan auch dabei war.
      Ich verstand nicht, warum Silan sich hatte vertreiben lassen. Ich verstand es nicht. Diese Leere in meinem Körper war mir allzu bekannt. Immer schneller und schneller wurde ich in dieses dunkle Loch gezogen und konnte nicht entkommen, egal wie sehr ich mich bemühte. Immer schneller und schneller flog ich nach unten, in die Dunkelheit, die mir so bekannt war. Silan war nicht da. Er hatte sich vertreiben lassen und das war viel schlimmer als die Tatsache, dass mein Vater sauer auf mich zu sein schien. Meine Mutter hatte versucht mit ihm zu reden, doch er hatte dicht gemacht. Leblos saß ich da, bekam den Ruck, der durch den Zug ging kaum mit, ehe wir losfuhren. Fahrtwind wehte mir entgegen, lachende Kinder fuhren mit dem Fahrrad hinter uns her. Hunde bellten.
      Eltern schrien, dass ihre Kinder vorsichtig sein sollten. Das alles rauschte wie im Film an mir vorbei. Reglos starrte ich nach vorne, beobachtete die Gäste im „Zug", die sich unterhielten und den Abend ihres Lebens zu haben schienen, während dies Leere in mir an Überhand gewann. So hatte ich mir den Abend nicht vorgestellt. Heute Morgen war noch alles schön gewesen. Und jetzt? Jetzt saß ich hier, ohne Silan. Ich verstand einfach nicht, wie er sich hatte vertreiben lassen können. Ich wusste nicht, was Vater zu ihm gesagt hatte. Vermutlich wollte ich es auch nicht wissen. Ich fand es scheiße, dass die beiden dachten zu wissen, wie ich meinen Geburtstag verbringen möchte. Der Urlaub war noch lang genug und ich wusste, dass mein Vater nicht wegen dem Boot sauer war.
      Er war sauer weil ich ihm nichts gesagt hatte. Damit hatte er ja auch recht. Er durfte sauer sein. Er durfte so wütend sein wie er wollte. Er konnte schreien und wüten wie er wollte. Er hatte jedes Recht dazu. Aber er hatte kein Recht dazu, Leuten zu sagen, ob sie zu meinem Geburtstag kommen konnten oder nicht. Das gehörte zu meinen Entscheidungen! Und doch war Silan nicht hier. Ein Teil in mir hoffte, dass er wie viele anderen Menschen, den Schaffner mitten auf der Straße anhalten würde, doch es geschah nicht. Wir fuhren zur zweiten Haltestelle oben an der Rezeption, doch dort stieg nur noch eine ältere Dame dazu. Mehr nicht. Dann fuhren wir aus dem Campingplatz und die Chance, dass Silan kommen würde, wurde kleiner und kleiner. Lustlos sah ich dabei zu, wie die Sonne sich immer weiter über den Himmel schob und den Himmel langsam in ein dunkles Orange tauchte. Der Anblick war schön. So schön, dass ich ihn mit Silan teilen wollte. Ehe ich mich versah hatte ich ein Bild von der Sonne gemacht und WhatsApp aufgerufen.

     Da ich seine Nummer hatte und in der EU auch Internet hatte, ging ich auf seinen Kontakt und schickte ihm das Bild mit den Worten: „Nicht so schön wie der Sonnenaufgang mit dir heute Morgen, aber ich wünschte ich könnte es dennoch live mit dir teilen." Zwei Sekunden später erschienen blaue Hacken, aber keine Antwort folgte. Er ging sofort offline. Mehr Leere flutete mich. Betäubte mich. Alles war so taub. Razul legte seinen Kopf auf meinen Schoß und ließ sich von mir hinter den Ohren kraulen. Er versuchte mich fröhlich zu stimmen, scheiterte aber. Denn in diesem Moment sah ich die Bilder von heute, die Silan mir anscheinend irgendwann zugeschickt hatte. Ich sah die Bilder von uns mit Razul, Bilder ohne Razul, das Bild von Silans verwirrten und überraschten Blick, als Razul das Eis verputzt hatte. Das alles sah ich und wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen, doch diese Leere verhinderte das. Die Leere verhinderte, dass ich Tränen weinen konnte.
      Immer wieder schaute ich auf mein Handy, in der Hoffnung, dass er antwortete. Doch er tat es nicht. Im Gegenteil. Er blieb offline. Ignorierte meine Nachricht. Enttäuscht schaltete ich mein Handy aus und streichelte Razul weiter. Die Dogge wusste, dass etwas nicht stimmte und stupste immer wieder gegen meine Hand, was mir nur ein kleines Lächeln entlockte, dass drei Sekunden später wieder verschwand. Meine Mutter sah mich traurig an. »Ach Mäuschen...« Ich schluckte und wandte den Blick ab. Stattdessen zählte ich die unzähligen kleinen Flecken auf Razuls Fell. Nach fünfzig hörte ich auf. Wir fuhren am Hotel Kimen vorbei, dann an dem Restaurant, in dem wir früher immer gewesen waren, dass sich jetzt aber so verändert hatte, dass wir nicht mehr kamen. Traurig sah ich das Restaurant an und sah meine Kindheitserinnerungen an mir vorbeiziehen.
      Dann bogen wir nach unten ab und kurz darauf befanden wir uns am Wasser. Der Bummelzug fuhr noch bis zu einer bestimmten Stelle, dann stiegen wir alle aus. Ein kleines Schild zeigte uns den Weg bis zum Restaurant. Wir mussten einen kleinen „Hügel" hinauflaufen. Alex lief neben mir und sagte etwas zu mir, doch ich hörte es nicht. Eigentlich bekam ich nichts mit. Wirklich nichts. Als wir den Eingang erreichten, lief ich als erstes hinein. Für einen Moment setzte mein Herz aus, als einen Jungen an einem Tisch sitzen sah. Doch das war nicht unser Tisch. An unserem großen Tisch saß noch niemand. Wir wurden zu Tisch geführt. In der Hoffnung, dass Silan durch die Tür kam sah ich mich um, doch er kam nicht. Hoffnungslos. Ich war ein hoffnungsloser Fall. Naiv.
      Lustlos setzte ich mich, bestellte das gleiche zu trinken wie meine Mutter und versuchte nicht allzu traurig zu wirken. Razul, der neben mir lag und nicht unter dem Tisch sah zu mir nach oben. Ich wollte nicht, dass er sich unter den Tisch legen musste, wenn er auch neben mir liegen konnte. Brav wie er war sah er zu mir auf, dann stupste er mein Bein an. Traurig lächelte ich. Lustlos und leer sah ich Tilo dabei zu, wie er mit Untersetzern für Gläser ein Turm zusammenbauen wollte, der aber immer wieder in sich zusammenfiel. Mit Absicht wich ich den Blicken meines Vaters und denen von Alex aus. Momentan war ich einfach nicht mehr in der Stimmung meinen Geburtstag zu feiern. Es gab kein Vorrecht, verdammt nochmal. Niemand hatte das Vorrecht mit mir meinen Geburtstag zu feiern. Was für eine bescheuerte Idee!

Adriatische Meeresbrise - Herzrasen in KroatienWo Geschichten leben. Entdecke jetzt