Ich kenne jeden einzelnen Zentimeter des Schlosses, kenne die verborgenen Ein- und Ausgänge, kenne die Schichten der Wachmänner vor dem Eingangstor, kenne den Schwarm der Köchin und die Schwäche der Zofen für oberkörperfreie, trainierende Wachmänner.
Als ich ankomme, warte ich bis zu vollen Stunde, zu der die Wachmänner die Posten wechseln. Meine einzige Chance, unbemerkt ins Schloss zu kommen. Gerade als der in Uniform gekleidete Mann von seiner Stelle tritt, renne ich über den Schlossplatz, direkt auf das geöffnete Fenster zu, das zu meinem Zimmer gehört. Vorbereitung ist eben das A und O.
Ich stütze mich auf das Fensterbrett und klettere in mein Zimmer. So weit, so gut. Mein Shirt ist ganz verschwitzt vom Joggen und ich fahre mir durch die Haare, in denen kleine Schweißperlen glitzern. Waschen kann ich mich nicht. Das Zimmer ist abgeschlossen. Soll ich meine Sachen jetzt anlassen? Oder mich vielleicht einfach umziehen und machen als wäre ich nie weg gewesen?
Ziemlich schnell entscheide ich mich für Letzteres. Hastig reiße ich die Flügel meines Kleiderschranks auf und nehme ein frisches Hemd und eine blaue Anzughose heraus. Schon jetzt weiß ich, dass ich in den langen Klamotten noch mehr schwitzen werde, doch das ist mir in diesem Moment egal. Ich muss mich umziehen, bevor meine Mutter mich dabei erwischt.
Eilig rolle ich meine nassgeschwitzte kurze Shorts von meinen Beinen und tausche sie gegen die Anzughose aus, was wegen meiner verschwitzten Beine gar nicht so einfach ist. Anschließend ziehe ich mir mein Shirt über den Kopf und streife mir mein Hemd über die Arme. Gerade will ich den ersten Knopf schließen, als ...
"Lionel Friederich Cornelius van Brackenborough!" Die Stimme meiner Mutter ertönt hinter mir und ihre Worte knallen wie Peitschenhiebe durch die Luft. Scheiße. "Wo warst du?" Ohne sie anzusehen, weiß ich, dass sie ziemlich wütend ist. Das hat mir gerade noch gefehlt ...
"Ich ..."
Noch bevor ich antworten kann, stellt sie sich vor mich. Mein Blick wandert zu ihren rot polierten Highheels, die es schaffen, sie immer noch größer als mich sein zu lassen. "Die Wahrheit, Lionel!"
"Ich ... in meinem Zimmer", lüge ich schnell und wage es nicht, ihr in die Augen zu sehen.
"Lio", fährt sie mich scharf an. Dieser Tonfall verheißt nichts Gutes ... Plötzlich spüre ich ihre Fingernägel, die sich in eines meiner Ohren krallen und mich ganz genüsslich nach oben ziehen.
"Ah." Leise stöhne ich und verziehe schmerzverzerrt das Gesicht. Jetzt muss ich ihr in die Augen sehen. Nein. Ihre zu den Schuhen passenden, rot angemalten Lippen sind gekräuselt und drücken ihr Missfallen aus, ihre Stirn liegt in Falten und ihr Blick trieft nur so vor Wut.
"Wo warst du, Lionel?", wiederholt sie ihre Frage.
"In. Meinem. Zimmer."
Sie hebt eine Braue, dann graben sich ihre Finger tiefer in mein Fleisch und ich stöhne erneut auf. "Erzähl mir keine Märchen, Lio! Ich merke doch, wenn du mich anlügst!"
Schwer seufze ich. "Ich war joggen."
"Joggen?" Mutter schnappt theatralisch nach Luft, lässt mein Ohr endlich los und erlöst mich so von den Qualen. "Joggen!?" Der Ton ihrer Stimme wird immer ungläubiger. Immer fassungsloser. Als wäre es etwas Abnormales, joggen zu gehen. "Wie oft habe ich dir jetzt schon gesagt, du sollst in deinem Zimmer bleiben?"
Zu oft, Mutter. Definitiv zu oft ...
"Wieso musst du bloß immer deinen Kopf durchsetzen?", fragt sie und massiert sich die Schläfen. Wahrscheinlich bekommt sie gerade Kopfschmerzen von mir. So wie immer. "Wieso kannst du dich nicht an das halten, was ich dir sage, Lio Schätzchen?"
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Cate und Lio - Mädchen kämpfen, Prinzen nicht
RomanceCatelynn ist die Tochter des Soldatenausbilders für die königliche Armee. Und so ist es auch kein Wunder, dass ihr Leben nur aus Training, Training und nochmals Training besteht. Bis eines Tages ein schüchtern lächelnder, attraktiver junger Mann im...