4 Cate

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 Es hat nie einen einzigen Tag in meinem Leben gegeben, an dem ich zu irgendetwas zu spät gekommen bin. Und so bin ich auch heute pünktlich. Ganz vorbildlich. Mal sehen, ob sich – wie hieß er noch gleich, Lio? – meine Ankündigung mit den Liegestützen zu Herzen genommen hat.

Gerade als ich darüber nachdenke, mein Shirt auszuziehen, weil es jetzt schon extrem heiß ist und mir der Schweiß förmlich in Bächen herunterläuft, kreuzt der Typ auf. Er trägt ein T-Shirt und kein Hemd, wie es gestern noch der Fall gewesen ist. Krass, er hat tatsächlich auf mich gehört. Gehorsam wie ein kleines Schoßhündchen. Na, wenn das nicht noch lustig wird ...

"Wunderschönen guten Morgen", begrüßt er mich mit sonnigem Lächeln. Wahrscheinlich versucht er seinen Weicheiauftritt von gestern wettzumachen. Was für ein Idiot. Aber gut, ich spiele mit.

"Guten Morgen ..." Ich mustere ihn scharf, während ich auf meine Antwort warte, doch er scheint es nicht zu peilen. "Ähm ... Das wäre jetzt der Moment, in dem du mir noch mal deinen Namen sagst."

"Oh, ja, richtig." Zerknirscht fährt er sich durch die Haare. "Lio."

"Lio? Habe ich da was verpasst?", hake ich streng nach und umkreise ihn, wie ein Tiger seine hilflose Beute.

"Lionel", verbessert er sich und sieht verlegen zu Boden. Offensichtlich scheint er seinen vollen Namen nicht zu mögen. Ein wunder Punkt mehr. Punkt geht an mich.

"Ich wünsche dir auch einen schönen Morgen, Lionel. Ein perfekter Tag für ein paar Liegestütze, findest du nicht auch?" Unverändert steht er da, standhaft, wie eine Salzsäule. Wahrscheinlich ist er auch nicht viel klüger als eine. Na super ... Danke Vater ...  "Worauf wartest du? Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit. Runter und fünfzig zum Aufwärmen." Lionel starrt mich an, als spräche ich Chinesisch. "Hallo? Noch da? Ich sagte, runter und fünfzig Liegestütze." Seine Augen werden immer größer, ungläubiger. "An deiner Stelle würde ich mich beeilen. Jede Minute, die du mit Rumstehen verbringst, rechne ich dir nachher in weitere fünfzig Liegestützen um." Bei solchen Typen schlage ich lieber gleich einen rauen Ton ein, bevor ich riskiere, später dann einen Nervenzusammenbruch der Extraklasse erleide.

"Oh, okay." Er errötet leicht, als wäre ihm irgendetwas peinlich. "Aber eigentlich bin ich nicht wegen Liegestützen hierhergekommen, sondern um Bogenschießen zu lernen."

Ich verdrehe die Augen. "Deine Arme sind zu schwach, um auch nur einen Bindfaden zu spannen", grummle ich und sah auf die Digitaluhr an meinem Arm. Und schon wieder eine verschwendete Minute ... Ah!

"So? Denkst du das?"

"Ja."

"Dürfte ich wissen, woher du das wissen willst?"

So langsam fängt es an zu nerven. "Nein, darfst du nicht wissen. Und jetzt fang verdammt noch mal an. Womit habe ich so etwas wie dich eigentlich verdient?"

"Wie bitte?" Ah! Aber schreiend davonlaufen ist keine Option. Leider. "Die Frage ist eher, womit ich dich verdient habe!" Krass. Einen Moment lang schweige ich.

"Gut, dann zeig mir, was du kannst." Ich reiche ihm zuerst den Bogen, dann einen Pfeil und zeige auf die Zielscheibe, ein paar Meter entfernt von uns. Keine wirklich große Entfernung. Einfach nur Kinderkram ... Doch Lionels Augen weiten sich.

"Mach du den Anfang", meint er dann und überreicht mir wieder Pfeil und Bogen. Wahrscheinlich denkt er, ich hätte beides manipuliert. Bei so einem Trottel ist das nicht einmal nötig. Aber egal, er würde das ohnehin nicht einsehen.

Ich lege den Pfeil ein, meine Finger legen sich an die Sehnen. Rau ist sie, gewohnt rau. Ich ziehe kräftig, um meine Fingerknöchel bis zum Ohr zu ziehen und mustere mein Ziel. Dann lasse ich los. Und ich treffe. Genau in die Mitte.

"Das war sicher nur Zufall", wirft er ein und angelt einen weiteren Pfeil aus dem Köcher. „Mach es nochmal", weist er mich in einem Ton an, als wäre er hier der Boss, nicht ich. Diese Einstellung werde ich ihm noch irgendwie austreiben.

Auch diesen Pfeil spanne ich in die Sehne ein und ziehe sie nach hinten. Es darf einfach nicht schiefgehen. Ein schlechter Pfeil und er wird mich kein bisschen mehr ernst nehmen. Also strenge ich mich an. Ich kneife die Augen zusammen. Und ich schieße.

"Nein", raunt Lionel und rennt auf die Zielscheibe zu, wo ich den ersten Pfeil mit dem zweiten gespalten habe. "Das kann nicht sein. Das geht nicht. Ich meine ..."

Innerlich lache ich triumphierend, nach außen hin gebe ich mir allerdings Mühe, nicht mehr als einen emotionslosen, kühlen, distanzierten Blick für sein Staunen übrig zu haben. "Gut. Genug Zeit vergeudet. Mach endlich deine Liegestütze."

Der Typ nickt und sah mich auffordernd an. "Mach du mit."

Ich schüttle den Kopf. "Sicher nicht und jetzt fang an."

"Hast du Angst, nach den ersten drei zusammenzukrachen? Oder willst du dir nur dein Ballkleid nicht schmutzig machen, Prinzessin?"

Jetzt reicht es. Als Prinzessin lasse ich mich definitiv nicht zweimal beschimpfen. Ich streife mir mein T-Shirt über den Kopf und knie mich zu Boden. Dann fange ich an. Lionel, der Freak, beginnt schon nach den ersten zehn zu keuchen, als sei er ein Mops mit Atembeschwerden, doch ich achte nicht darauf. Ich bin alles, aber keine Prinzessin. Und dieser Lionel ist nichts weiter als ein neunmalkluger Teenager.  

Cate und Lio - Mädchen kämpfen, Prinzen nichtWo Geschichten leben. Entdecke jetzt