Kapitel 5

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Samstag, 14. August

"Oğlum kalk! Sabah namazını kıl da çıkalım!" Ich öffne meine Augen und schaue zu meiner Mutter. Sie sitzt auf dem Gebetsteppich und hat noch ihre dementsprechende Kleidung an. "Hadi!", gibt sie nun etwas lauter von sich. Sie verlangt direktes Handeln. "Schon gut!", gebe ich noch schlaftrunken von mir und stehe auf, um ins Bad zu gehen. Die Räume sind leicht erhellt, doch ist die Sonne vermutlich gerade erst etwas aufgegangen. Als ich an Samiyas Zimmer vorbeilaufe muss ich schlucken. Ich hab ihr immer noch nichts erzählt! Die Erkenntnis gibt mir ein mulmiges Gefühl. Was wenn ich es ihr nicht mehr sagen kann, was dann? Wann werde ich sie je wiedersehen? Sie hat mir die letzten drei Tage zu den Schönsten gemacht, selbst wenn es gestern nur wenige Augenblicke waren. Sie allein wären suffizient! Nur drei Tage, doch ihr Inhalt war ein Traum! Ich hoffe sie wird mir vergeben! Meine Ignoranz, die ich leider Gottes meinem Albtraum zu verdanken habe, hat unser Verhältnis geschwächt. Wie konnte ich sie nur so behandeln? Ich will die Gedanken vergessen und laufe ins Bad, wo ich meine Gebetswaschung hole und die vier Gebetseinheiten verrichte. Daraufhin ziehe ich mich an und blicke noch ein letztes Mal in diesen leeren Raum. "Lebe wohl!", sage ich zum Raum und laufe raus.

Die Koffer wurden bereits ins Auto beladen und meine Oma steht auch schon mit Samiyas Eltern und Cemre da. Es wird so schwer sein, Abschied zu nehmen. Doch einen Moment! Wo ist Samiya? Ich schaue verwirrt zu Samiyas Eltern, die verstehen. "Kızım kalkamadı! Çağırdık ama nafile!", sagt ihr Vater. Sie hat aber einen echt schweren Schlaf. Jetzt kannst du dich nicht einmal von ihr verabschieden! Ich wünsche mir gerade nichts sehnlicheres, als dass ich noch mehr Zeit mit ihr verbracht hätte! Doch es geht nicht. Sie schläft und ich will ihr nicht den Schlaf stehlen. Ich nicke. Während meine Eltern sich jeweils nach der Reihe verabschieden, steht Cemre nach einiger Zeit frei. Sie blickt enttäuscht zu mir hoch. Ich knie mich zu ihr hin. "Du gehst jetzt, nh?", fragt sie monoton. Ich nicke, ebenfalls erschüttert. "Du kommst mich in Deutschland besuchen, oke?" Und ob ich das tun werde. Ihr Satz war mehr eine Aussage, als eine Frage. "Ja, werde ich!", versichere ich ihr in einem netten Ton. "Bis bald!", sage ich und sehe, wie sie nickt. Ich stehe auf und sehe ihre Mutter. "Sizi tanıdıma memnun oldum!", sage ich freundlich. "Bende!", sagt sie. "Isminiz neydi?", frage ich etwas schüchtern, da ich ihren Namen nie zu hören bekommen habe. "Nurcan!", sagt sie freundlich. "Danke!", sage ich und laufe weiter zu Mahir. "Abi biz gidiyoruz!", teile ich ihm mit. "Evlat kendinize iyi bakın ve Allah'a emanet olun!", sagt er. "Ihr auch!", sage ich. Und passt vor allem auf Samiya auf! Zu guter Letzt wende ich mich an meine Oma, der schon einige Tränen runterkullern. "Ağlama, babaanne!", muntere ich sie auf. "Elimde değil uşağım!", sagt sie weinerlich. Ich nehme sie in eine innige Umarmung, wonach ich sie dann loslasse und ins Auto steige.

Mein Vater startet die Zündung und wir fahren durch das offene Tor raus. Wir winken noch ein letzes Mal und ich sehe wie Mahir das Tor schließt. Mein Vater fährt in die mittlere Spur und danach direkt in die linke und macht sich bereit zu wenden. Als wir dann auf der Gegenspur sind und gerade an unserem Haus vorbeifahren, hupt mein Vater paar mal und ich sehe ... Samiya! Ich sehe wie sie ihre Hand ausstreckt und winke ihr zu, was sie danach auch erwidert. Wir fahren weiter an Bakacakkadı vorbei und setzen unsere Reise fort.

Seit knapp einer Viertelstunde sind wir auf der Fahrt und die Sonne scheint nun mehr auf uns drauf. Es ist ein sonniger Tag. Wenige Wolken sind am Himmel. Doch langsam stauen sich Gedanken in mir auf. Früher waren es immer Sehensüchte an unsere Heimat, doch diesmal ist noch etwas dabei. Und zwar die Schuld! Draußen sehe ich die Berge, die grün sind und einem einfach schon durch ihre Art gefallen. Doch die Erinnerungen lassen nicht locker. Wie sehr ich sie ignorieren will, doch sie lassen es nicht zu! Sie lassen nicht zu, dass ich sie verdränge! Der Mittwoch kommt mir in den Sinn. Der beste Tag meiner Sommerferien! Es war fast genauso sonnig und warm wie heute. Wir wollten ans Meer gehen und Samiya wollte mitkommen. Was wäre passiert, wenn sie nicht gekommen wäre? Ich will es mir gar nicht ausmalen! Es war der schönste Tag ... meines Lebens! Und nein, das ist nicht übertrieben! Es war diesmal nicht nur die Türkei, sondern auch ein Mädchen. Aber nicht irgendeins. Es war Samiya! Dieses Mädchen, mit ihrem Lächeln, bei dem man nicht anders kann, als mitzulächeln. Noch nie habe ich das bei einem Mädchen gesehen! Du hattest auch noch nie wirklich Kontakt zu Mädchen! Das stimmt auch, aber trotzdem. Am Anfang war es nur, um ihr einen schönen Tag zu bereiten, doch dann war es mehr. Ich wollte sie glücklich sehen, da sie mich auch glücklich machte! Wenn ich an ihr Lächeln denke. An dieses süße Lächeln! Es zerbricht mich gerade. Ich spüre, wie die Tränen sich bereit machen, gleich meinen Körper zu verlassen. Doch ich kann nicht weinen! Nicht jetzt, vor meinen Eltern. Ich unterdrücke sie. Gott, weine ich gerade wegen einem Mädchen?

Wir sind bereits in Bolu und fahren weiter. Ich sehe, dass immer mehr Wolken am Horizont entstehen und wie einige sich schon verdunkeln. Wird es regnen? Schon wieder kann ich mich nicht auf die Umgebung konzentrieren und werde wieder von Gedanken geplagt. Diesmal vom Donnerstag. Ein Stich bohrt sich in meinen Bauch. Dieser Tag war schlimm! Ich bin aufgewacht, wegen eines Traums, dessen Inhalt ich immer noch verabscheue. Dieser hat dafür gesorgt, dass ich Samiya ignoriere. Das Mädchen, das mich einen Tag vorher gefragt hat, ob wir tanzen sollen! Verdammt, was habe ich getan?! Erst jetzt fällt mir auf, wie ich drauf war und wie groß mein Fehler war. Und es war nicht nur meine Ignoranz! Ich wurde so sehr durch den Traum beeinflusst, dass ich sie nicht einmal mehr sehen wollte! Wie komntest du ihr das nur antun? Ich weiß es nicht, verdammt! Sie ist danach auch zu mir gekommen, um den Grund zu erfahren, doch ich hab geschwiegen. Hätte ich es ihr bloß da gesagt, dann wäre ich jetzt nicht in dieser Lage! Wieso habe ich geschwiegen? Wieso?! Gott, mein Atem wird schneller und ich spüre wie man Herz schneller schlägt. Ich bin so ein Idiot! Danach ging sie in ihr Zimmer und meine Mutter kam. Als sie erzählte, dass Samiya mitkommt, da pochte ich vor Wut. Ich hasse mich gerade selbst dafür! Gott, sie wollte danach nicht mitkommen! Aber wieso eigentlich? Ich beruhige mich etwas. Dadurch, dass meine Eltern gerade reden, bemerken sie mein energisches Verhalten nicht zu sehr. Zum Glück. Hat sie meine Ignoranz so sehr bedrückt? Oder lag es an etwas anderem? Sie war die ganze Zeit im Zimmer. Ja, klar! Jetzt merk ich erst, weshalb sie nicht mitkommen wollte. Hat sie das Gespräch mit meiner Mutter gehört? Aber klar, das hat sie! Gott, wie muss sie sich danach gefühlt haben? Ich hab gesagt, dass ich sie nicht bei mir haben wollte! Wie fühlt man sich dann wohl? Gott, es tut mir so schrecklich leid! Sie wollte danach auch nicht mitkommen. Um dich glücklich zu machen wahrscheinlich! Nein! Das darf nicht sein! Ich hab endgültig die Kontrolle über meinen Körper verloren, weshalb mir Tränen aus den Augen fließen.

Ich weine, doch das ist mir gerade egal. "Emin, alles gut?", höre ich meinen Vater besorgt fragen. "Nur die Sehnsucht.", lüge ich. Er nickt und wir fahren weiter. Ich höre, wie ein paar Regentropfen auf das Auto prasseln. Auch das noch. Es regnet! Eine bessere Stimmung kann es gerade für mich sowieso nicht geben. Meine Brust hebt und senkt sich hektisch. Was habe ich nur getan? Ich habe ein Mädchen verletzt, dessen einziges Ziel es war mich glücklich zu sehen. Sie wollte mit mir tanzen. Mit mir! Verdammt, das hat noch kein Mädchen von mir gewollt, doch sie hat es mir gestanden. Einem Jungen, den sie wenn überhaupt für paar Stunden kannte. Sie hat mich nie enttäuscht! Ihre Fürsorge für mich lässt mein Herz schmerzen. Ich habe ihr gebeichtet, dass ich nicht tanzen kann. Ihr war es egal! Ich hab ihr gebeichtet, dass ich die Wirbel der Fische nicht entfernen kann. Ihr war es egal! Doch ich? Ich habe sie wegen eines Traums verachtet. Gott, ich werde mir das nie verzeihen können!

*Musik abspielen (für den Vibe natürlich)

Die Regentropfen prasseln härter auf das Auto und ich sehe von hinten, wie die Windschutzscheibe vollgefüllt mit Wasser ist, sodass man kaum etwas sehen kann. Mein Vater versucht sich noch dadurch zu kämpfen. Im Auto fängt nun auch noch Ağla Yüreğim von Ali Güven an zu spielen. Die Stimmung passt gerade perfekt zu meinem Inneren. Will man von mir, dass ich mich so fühlen soll? Ich seufze leise. Ich verdiene alles! Ich verdiene es nicht, sie wiederzusehen. Ich könnte es nicht ertragen ihr ins Gesicht zu schauen! Ich schäme mich! Ich schäme mich gerade so sehr von mir selbst, dass es mich schon anekelt. Der Text fängt an zu spielen, wo ich zuhöre, da der Text meine Gefühle beschreibt. Ich fühle mich gerade so schuldig! Ich vermisse sie, doch verdienen tue ich sie nicht. Was ich angetan habe, ist mit einem Traum nicht zu rechtfertigen! "Ağla Yüreğim, ağla! Bu dönmez nasıl olsa!", höre ich den Liedtext und kann nur zustimmen. Weine, mein Herz, weine! Sie wird eh nicht zurückkommen! Wie recht dieses Lied doch hat. Egal, was ich tun werde, ich verdiene ihren Anblick nicht! Ihr süßes Lächeln nicht! Und vor allem, werde ich sie überhaupt je wiedersehen? Gut! Unsere Eltern kennen sich jetzt zwar, aber das heißt ja nicht, dass wir uns jetzt sofort gelegentlich besuchen werden. Ich wünschte, ich hätte es ihr gesagt! Die Zeit gefunden oder erst gar nicht so gehandelt. Ich verfluche meinen Albtraum und auch mich selbst dafür!

Wie konnte ich nur ein Mädchen verletzen?

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Hier ein kurzes Kapitel für alle treuen Leser. Das musste auch mal sein!

-Ismail

VertrauenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt