Kapitel 1

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-In einer Welt ohne SARS-CoV-2 alias das Coronavirus-

Mittwoch, 11. August 2021

Meine Hand gleitet zum Schalter, der für das Öffnen des Fensters vorgesehen ist. Nachdem ich den Schalter betätigt habe, spüre ich eine warme Brise meine Haut streicheln. Ich genieße es. Dadurch, dass das Auto gerade fährt, wirkt der Wind noch stärker, was mir umso mehr Freude bereitet. Ich atme die frische Luft ein und würde am liebsten mein ganzes Leben nur die Luft der Türkei einatmen wollen, da diese einfach so singulär ist. Doch das Schicksal wollte es anders. Dieses Jahr sind wir -ich und meine Familie- in die Türkei geflogen, da das letzte Mal schon fast zwei Jahre her war. Das war eine lange Zeit. Ich habe diese Atmosphäre und allgemein die Ambiente dieses Landes vermisst. Ich glaube, dass dies das ist, was manche als Heimat bezeichnen. Jedenfalls haben wir hier den Großteil der Sommerferien verbracht und in den letzten Wochen ist nicht wirklich etwas spektakuläres passiert. Außer dass viele Bekannte, aber auch viele davon, die wir, bzw. ich, nicht kenne aufgrund des Opferfestes zu uns gekommen sind. Hier in der Türkei leben wir an der Nordküste des Landes, in der Provinz Zonguldak und nahe des Bezirks Çaycuma in einem kleinen Dorf bei meiner Oma. Da es eine Tradition bei uns ist, dass Jüngere die Älteren an Festtagen besuchen, kann man sich denken wie viele Leute da zu einem kommen. Meine Eltern wollten aber, dass ich noch die Ferien genießen kann und beschlossen die letzten Tage für mich besonders zu machen. Unter anderem auch heute, wo wir beschlossen haben zum Strand zu fahren.

"Freust du dich schon?", fragt mich Samiya, die schon etwas euphorisch klingt und mich aus meinen Gedanken rausholt. "Ja sehr!", antworte ich und strahle eine Freude aus. Samiya und ich kennen uns nicht wirklich, naja, eigentlich so gut wie gar nicht. Vor ein paar Wochen ist sie mit ihren Eltern und ihrer kleinen Schwester zu uns ins Dorf gekommen. Aus dem Kennzeichen 06 konnte ich ableiten, dass die Familie aus der Hauptstadt Ankara kommt. Meine Hypothese wurde dann bestätigt, als ich ihren Vater sagen hörte, dass er und seine Familie aus Ankara kommen würden. Die Mutter sei aber ursprünglich aus dem Dorf, jedoch hatte es wohl einen Streit innerhalb der Familie ihrer Mutter gegeben, weshalb sie nicht mehr hierhergekommen waren. Sie waren aber trotzdem hierhergekommen, weil eine Person aus ihrem Bekanntenkreis, zu denen sie nicht wirklich Streit hatten, einen Herzinfarkt bekommen hat und sie daher beschlossen haben zu uns zu kommen. Der Person geht es jetzt allerdings wieder besser, aber der Vorfall hatte sich im ganzen Dorf herumgesprochen, weshalb man nicht unwissend zurückbleiben konnte. Da sie eben so lange nicht gekommen waren und auch um meine Oma glücklich zu machen, beschloss die Familie den Rest ihrer Urlaubstage hier bei uns im Haus meiner Oma zu verbringen. Heute wollten allerdings Samiyas Eltern mit ihrer kleinen Schwester einkaufen gehen, doch sie hat darauf bestanden mit uns zu kommen. Verständlich, denn wer will bei diesem sonnigen, heißen Wetter und glasklarem Himmel nicht zum Strand? Ihre Eltern konnten ihr den Wunsch auch nicht abschlagen und so kam sie mit uns.

Während der Fahrt mustere ich meine Umgebung. Im Auto spielt leise Musik. Aramazsan Arama von Gökhan Özen, doch durch das Rauschen des Windes bekomme ich nicht viel mit. Währenddessen redet Samiya, die zuvor schüchtern auf dem Autositz saß, jetzt ganz offen mit meinen Eltern und hat sich sogar schon zu den vorderen Autositzen gebeugt. Sie erinnert mich etwas an mich selbst. Ich bin auch zu fremden Menschen am Anfang schüchtern, aber mit der Zeit, entsteht eine angenehme Aura und man fühlt sich viel vertrauter mit dem Gegenüber und wird offener. Da sie mich gerade nicht sieht, nehme ich mir die Zeit und schaue sie mir genauer an. Sie trägt ein weißes T-Shirt, auf dem in schwarz das Nike-Logo steht und welches locker anliegt. Unter dem T-Shirt trägt sie vermutlich ihren schwarz-grauen Badeanzug, dessen Träger leicht an ihren Schultern sichtbar werden. Darunter trägt sie eine Jeans, die zum Glück, keine Löcher enthält, denn das mag ich gar nicht! Ich verstehe einfach nicht, wieso man mit zerrissenen Hosen rausgehen soll. Aber egal, muss ich eh nicht verstehen. Plötzlich beugt sie sich wieder zurück auf ihren Sitz, weshalb ich schnell wieder nach draußen schaue. Doch innerlich weiß ich, dass sie meinen Blick auf ihr gesehen hat. Ich spüre, wie sie mich mustert.

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