❥ Chapter 36

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Lyas POV

Obwohl ich mittlerweile schon seit Monaten wöchentlich zu Mrs Jensen gehe, bin ich trotzdem jedes Mal ziemlich angespannt. Ja, sie ist eine gute Therapeutin und sie ist eine der wenigen Leuten, die mich nicht bemitleidend ansieht, aber es trotzdem jedes Mal eine Überwindung, mich ihr zu öffnen. Besonders heute.

"Wenn du soweit bist, können wir über Nick reden." Das hat sie zwar bei den letzten Treffen schon vorgeschlagen, aber ich hatte gehofft, dass sie es bis heute vergessen würde. Ein Anfängerfehler meinerseits, schließlich hätte ich es bei ihr besser wissen müssen.
Ich weiß, wer Nick war. Darüber zu reden, ist nicht das Problem. Aber immer wenn ich an ihn denke, sehe ich seine leeren Augen und seinen toten Körper vor mir und habe das Gefühl, als würde ich jeden Moment ersticken. Klar, manchmal rede ich mit Maddie über vergagende Zeiten, aber das meistens auch nur an guten Tagen und sie kannte ihn. Alles, was Mrs Jensen über ihn weiß ist, das ser sich umgebracht hat.
"Aber wir müssen nicht, Lyana. Das ist okay. Niemand zwingt dich dazu. Vielleicht dann ein anderes Mal."
Ich weiß, dass ich wohl nicht darumherum kommen werde. Trotzdem macht mich das wütend. Immer wieder Dinge aufzuschieben und Gedanken zu verdrängen ist auf Dauer keine Lösung. Glaubt mir, ich habe es versucht. Jetzt habe ich die Chance, einen großen Schritt in die richtige Richtung zu gehen und die will ich nutzen. Ich räuspere mich."N-Nein, ist schon okay. Ich, ähm, ich bin bereit", erwidere ich mit wenig Überzeugung, aber mehr konnte ich nicht aufbringen.
Ein kleinen Lächeln huscht über Mrs Jensens Gesicht. "Gut. Erzähl mir doch einfach mal, wie er so war. Fang vielleicht mit eurem Kennenlernen an."
Mein Herz klopft wie wild gegen meinen Brustkorb und meine Hände werden immer schwitzger. Versucht unuffällig putze ich sie an meiner Hose ab und versuche mich zu beruhigen. Ruhig Lya, du schaffst das. "Wir haben uns im Kindergarten kennengelernt. Dann sind wir Freunde geworden und irgendwann waren wir dann unterzertrennlich", sage ich langsam und kontrolliert.

"Dann seid ihr gemeinsam zur Schule gegangen?"

"Ja. Wir waren auch immer in vielen Kursen zusammen, bis, ähm, dieses Jahr."

"Er war dein bester Freund, stimmt das?"
Bei dieser Frage zucken meine Mundwinkel. "Oh ja, der beste, den man sich vorstellen kann. Er war wirklich immer für mich da und mit ihm konnte man wirklich alles machen. Nick war für jeden Spaß zu haben. Zwar nicht so wie ein typischer Klassenclown, aber er hat mich immer zum Lachen gebracht. Als wir noch jünger waren, haben wir ganz schön viel Unsinn gemacht. Nick sind die verrücktesten Sachen eingefallen, aber das wurde mit der Zeit weniger, je älter wir wurden. Wir waren oft gemeinsam im Kino, in der Stadt... all sowas halt. Vorletztes Jahr im Sommer waren wir sogar mit unseren Familien in London. Wir wollten unbedigt dorthin und haben alles dafür getan." Ich rede und rede immer weiter über Nick. Ich erzähle von unserer Liste der Orte, die wir beide gerne bereist hätten, von Halloween, von unseren Geburtstagen und von anderen Ereignissen. So viel habe ich, glaube ich, noch nie in einer Therapiestunde gesprochen. Irgendwie kann ich auch gar nicht mehr aufhören. Die ganzen letzten Monate habe ich mir verboten, über ihn nachzudenken und jetzt fließt alles raus, was sich vorher angestaut hat. Alle Momente mit Nick spielen sich in vor meinem innere Auge wie ein Film ab und ich würde alles geben, um diesen Film nochmal sehen zu können.
"Und dann, na ja, sie wissen schon."

Mrs Jensen nickt und schreibt einige Punkte auf. "Hört sich so an, als wäre er ein toller Mensch gewesen", sagt sie mit einem Lächeln.

"Ja, das war er. Er war die lebensfrohste Person, die ich kannte." Das trifft mich wie ein Schlag und ein Stich durchfährt meinen Magen. "Dachte ich zumindest", murmle ich.

"Warum meinst du, hat er sich das Leben genommen?", fragt Mrs Jensen unverblümt.

Unglaublich, aber wahr. Sie ist die erste Person, die mich das geradeheraus fragt. Natürlich haben die anderen auch die eine oder andere Andeutung dieser Frage fallen lassen, aber die war nie so direkt wie ihre. Jeder hatte angenommen, dass ich am besten Bescheid wissen müsste, weil ich ihn am besten kannte, doch das tat ich nicht. Ich weiß nicht, warum er sich umgebracht hat. Er hat nie einen Abschiedsbrief hinterlassen, was ich schon immer merkwürdig fand, aber es gibt auch Leute, die nichts hinterlassen und Nick war wohl einer von ihnen. Obwohl er mir wirklich immer alles gesagt hat, nur anscheinend nicht das Wichtigste. Also kannte ich ihn wohl genauso wenig wie die anderen.

Ich schlucke den Kloß der Schuldgefühle in meinem Hals runter. "Ich... ich weiß es nicht." Ich senke meinen Blick und spüre, wie meine Wangen an Hitze annehmen. Eigentlich sollte ich es wissen. Als beste Freundin sollte man es wissen und verhindern können, doch ich habe versagt und ich schäme mich unglaublich dafür.

Mrs Jensen hält mir ein Taschentuch hin und erst als ich wieder hochgucke, bemerke ich, dass ich weine. Ich habe immer gefragt, wie es möglich ist, dass jemand weint, ohne es zu merken, aber es scheint wohl wahr zu sein. Wenn man zu sehr in Gedanken ist, kann das durchaus passieren.

Also nehme ich ihr dankend das Tuch ab und wische mir damit über die Augen. Das ist einer der Gründe, warum ich seit Nicks Tod keine Mascara mehr benutze. Mittlerweile weiß ich nie, wann ich wieder anfange zu weinen und wann nicht. Also habe ich der Schminke vollkommen abgeschworen.

"Machst du dir Vorwürfe deswegen?"

"Ist das so offensichtlich?", lache ich schwach und putze mir die Nase. "Ja, jeden verdammten Tag. Entschuldigung."

"Du musst dich nicht entschuldigen, Lyana. Lass deine Gefühle einfach raus", sagt Mrs Jensen sanft.

"Ich bin seine beste Freundin. Ich meine, ich war", korrigiere ich mich. "Hätte ich es da nicht wissen sollen oder es überhaupt merken müssen? Bestimmt, aber das habe ich nicht. Ich habe einfach mein Leben gelebt und zugesehen, wie Nick am Rande seines Lebens entlanglief und am Ende gestürtzt ist. Ich war so egoistisch." Ich nehme mir noch ein Taschentuch und wische mir erneut die Tränen ab.

"Deine Gefühle sind verständlich. Den meisten Hinterbliebenen geht es so. Sie geben sich selbst die Schuld, obwohl sie es nicht waren, die die geliebte Person umgebracht haben. Ziemlich oft verstecken suizigefährdete Menschen, wie sie sich wirklich fühlen, weil sie denken, dass sie den anderen zur Last fallen, wenn sie es ansprechen. Sie möchten so wenig Aufmerksamkeit wie möglich", erklärt sie sachlich.

"Aber er hat mir immer alles gesagt. Warum hat er irgendwann aufgehört, mir zu vertrauen?" Ich klinge so verzweifelt, dass es mich nicht überraschen würde, wenn ich im nächsten Moment auf Knien vor Mrs Jensen sitzen und um Antworten betteln würde, die sie jedoch auch nicht hat. Es ist wie ein Tap im Internetbrowser, den ich nicht schließen kann, egal wie oft ich es versuche. Anscheinend stimmt etwas mit meinem Browser nicht.
"Er wäre mir nie zur Last gefallen und das wusste er. Nick ist ein Teil meiner Familie und war immer für mich da. Ich hätte ihn niemals allein damit gelassen", füge ich hinzu und spüre zum ersten Mal, wie gut es sich anfühlt, es endlich laut ausgesprochen zu haben. Es kommt mir so vor, als hätten wir in dieser Therapiestunde einen wichtigen Schritt gemacht. Mrs Jensens Gesichtsaudruck nach zu urteilen ist sie auch dieser Meinung.

Break The FallWo Geschichten leben. Entdecke jetzt