Kapitel 2. Ich bin geliefert

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,,Cathy, dein Schulbus fährt gleich ohne dich los!"  Ruft eine Stimme aus der Küche. Verschlafen reibe ich mir über das Gesicht und öffne langsam die Augen. Leider schließen sie sich nach ein paar Minuten wieder und ich versinke erneut im Land der Träume. 

 ,,Süße, du musst jetzt aufstehen." Diesmal ist die Stimme ein leises Flüstern und ganz nah. Zu nah. Erschrocken setze ich mich auf und sehe mich aufmerksam um. Belustigt nimmt Daddy meine Hand und streichelt sie.

 ,,Was ist denn los? Du bist ja so schreckhaft heute." Er setzt ein falsches Lächeln auf. Ich will meine Hand wegziehen, aber sein Griff ist zu stark. Er zieht mich fest zu sich nach oben, sodass wir auf Augenhöhe sind. Seine Iris hat einen leichten Grau-Ton angenommen, sein Lächeln hat sich zu einem Zähne fletschen verwandelt. Angst durchfährt mich. Aber diesmal nehme ich all meinen Mut zusammen.

,,Dad-Daddy...I-Ich will das Spiel nicht mehr spielen." Eine bedrohliche Stille kehrt ein.

Sein Griff wird fester. ,,Was hast du gesagt?" Er schreit mich an.

Eingeschüchtert  sehe ich nach unten. ,,Nichts…Nichts habe ich gesagt."

Sein Griff lockert sich etwas. Entmutigt sinke ich in mein Kissen.

 ,,Gut so. Etwas anderes hätte ich auch nicht von dir erwartet." Schnell beginnt er mein Pyjamaoberteil aufzuknöpfen. Hilfe! Hilfeeeeeeeee! Bevor er mich küssen kann, klingelt es in seiner Jackentasche. Meine Rettung! 

 Sichtlich genervt zückt er sein Handy und drückt den grünen Knopf. >>Ja, Hallo?....Oh, hey Miriam, was gibt es?....Ja....Oben im dritten Fach auf der rechten Seite....Nein….Wie, Sie können es nicht finden?.....Miriam.....Miriam! Das waren sehr wichtige Dokumente, ist ihnen das bewusst?...Ob ich nicht richtig abgeschlossen habe? Was für eine Frechheit, mir so etwas zu unterstellen! Ich schließe immer ab..... Das wird ein Nachspiel haben...Nichts Aber!... Das klären wir gleich, wenn ich da bin! Auf-wieder-hören.<<  Zornig schmeißt er sein Handy auf den Boden, aber das interessiert mich nicht weiter. Miriam. Miriam, heißt meine Rettung. Diesen Namen muss ich mir merken.

 ,,Daddy, ist alles okay?" Frage ich leise. Er schaut mich mit trübem Blick an.

 ,,Meine dumme Praktikantin hat gerade einen sehr wichtigen Vertrag verschlampt. Aber das werde ich mit ihr klären. Zieh du dich jetzt erst einmal an. Deinen Bus hast du bereits verpasst. Ich werde dich auf dem Weg zur Arbeit mitnehmen." Mit diesen Worten verschwindet er aus dem Zimmer.

Jetzt muss ich mich beeilen. Schnell laufe ich zum Kleiderschrank und fische mir einen Pullover, auf dem ein Reh genäht wurde und eine blaue Jeans heraus. Dazu noch ein paar warme Socken.

 In der Küche reicht Daddy mir mein Pausenbrot. Dankend packe ich es in meinem Schulranzen und ziehe mir eine Jacke über und meine Schuhe an.

 ,,Cathy, anschnallen bitte!" Fordert er mich auf, als wir im Auto sitzen. Wie immer habe ich auf der Rückbank Platz genommen. Vorne möchte ich nicht sitzen. Man weiß ja nie, ob er das Spiel auch im Auto spielen will….

 Schnell schnalle ich den Gurt um und sehe aus dem Fenster. Große, graue Wolken bilden sich am Himmel. Es wird wohl bald ein Unwetter geben. Aber da ist noch etwas. Ein Vogel! Nein, ein Adler, der im Wind seine Kreise zieht. Er sieht schön aus. Geschmeidig und in gleichmäßigen Bewegungen schwingt er seine Flügel.  Er ist frei.

Ich will auch frei sein! Ich will auch fliegen können! Ich will zu Mummy fliegen!..... Heute Nacht.

 ,,Prinzessin, wir sind da." Daddy sieht in den Rückspiegel und richtet seine Krawatte. Ich beuge mich nach vorn und gebe ihm einen Kuss. Einen Abschiedskuss  ,,Daddy, ich will nur das du weißt, dass ich dich lieb habe, obwohl ich dieses Spiel nicht leiden kann." Fragend dreht er sich um. ,,Aber Cathy, ich weiß doch, das du mich lieb hast. Und das Spiel wird gespielt. Irgendwann wirst du es genauso mögen wie ich." NeinNein, ich werde es nie mögen.

 Gerade will ich aussteigen, als mir Miriam wieder in den Sinn kommt. Ich äußere meinen letzten Wunsch. ,,Und bitte kündige deine Praktikantin nicht." Meine Stimme klingt überraschend fest. Ungläubig sieht Daddy mich an. ,,Warum nicht?" Er zieht eine seiner markant geschwungenen Augenbrauen in die Höhe. ,,Weil sie diese wichtigen Papiere nicht verschludert hat, da bin ich mir ganz, ganz sicher." Er scheint kurz zu überlegen. ,,Wir werden sehen. Aber jetzt ab in die Schule mit dir!"  

 Schnell steige ich aus und gehe die Stufen zum Haupteingang meiner Grundschule nach oben. Ich öffne die Tür und  gehe einen unendlich langen Flur entlang, bis ich schließlich an meinem Klassenzimmer klopfe.

  ,,Herein!" Ruft die strenge Stimme von Mrs. March. Eingeschüchtert trete ich in den Raum und versuche ihren bösen Blicken auszuweichen. ,,Cathy Stirling. Wieder einmal zu spät. Komm doch bitte an die Tafel und löse die Aufgaben." Traurig lege ich meinen Schulranzen auf dem Boden und nehme ein Stück Kreide in die Hand. Wie soll ich das nur lösen? 3*91+39,6. Die Zahlen erschlagen mich förmlich.

  ,,Wir alle warten auf deine Antwort, Cathy" Ich drehe mich um und sehe in die grinsenden Gesichter meiner Mitschüler. Sie lachen mich aus. Alle lachen mich aus! Mrs. March schlägt sich die Hand gegen die Stirn. Die Röte schießt mir ins Gesicht. Das Gelächter wird stärker. ,,So so, zu spät kommen und noch nicht mal die Hausaufgaben richtig erledigt haben. Setz dich." Tränen schießen mir in die Augen. Ich schluchze leise und begebe mich gekränkt  auf meinen Platz.

  Nach weiteren, quälenden Schulstunden habe ich dann endlich frei. Alleine gehe ich zur Bushaltestelle und warte. Freunde habe ich nicht. Ich hatte welche, aber sie wollen nichts mehr von mir wissen, weil ich mich anscheinend verändert habe. Dabei habe ich mich doch gar nicht verändert! Ich bin  noch genau dieselbe Cathy, wie vor dem Tod von Mummy! Oder nicht? Bevor ich weiter darüber nachdenken kann, kommt mein Schulbus angefahren. Der Fahrer lächelt mich so freundlich wie immer an. ,,Na junge Dame, wie geht es dir Heute?" 

  ,,Danke, es geht mir gut Sir. Und wie geht es Ihnen?" Er lächelt. ,,Mir geht es auch ganz gut."  Ich nicke und gehe weiter. Alle Plätze sind besetzt. Ich entscheide mich zu stehen. Hinter mir höre ich flüsternde Stimmen.

 ,,Ist das nicht das kleine Mädchen aus der 1b, die immer zu spät kommt?"

 ,,Ja und sieh sie dir mal an. So dünn wie eine Spargelstange, die Haare fettig und am Schlimmsten sind ihre Klamotten."

 ,,Ich hab gehört, ihre Mum sei gestorben.“

 ,,Eigentlich kann sie einem ja nur leidtun.“

 Ich traue mich nicht umzudrehen. Stattdessen kuschle ich mich fest in meine Jacke und tue so, als würde ich die Kommentare der älteren Schüler überhören, aber in Wirklichkeit versuche ich krampfhaft meine Tränen zurück zu halten.

 Als ich dann endlich zu Hause angekommen bin, gehe ich in die Küche und mache mir ein Nutella-Brot. Mummy hat immer warm für mich gekocht. Ich vermisse das warme Essen. 

 Und wie immer ist Daddy noch auf Arbeit.  Ich nutze die Zeit um eine Abschiedsrunde durch das große Haus zu machen. ,,Tschüss liebes Bad; Tschüss liebes Wohnzimmer; Tschüss liebes Arbeitszimmer;  Tschüss lieber Kopierer, über den Daddy sich immer so aufregt hat, weil er nie funktionierte; Tschüss mein liebes Zimmer; Lebe wohl Teddy, Stell nicht so viel Unfug an!“

 Ich bin wieder in der Küche angekommen. ,,Und lebe wohl leeres Nutella Glas" Ich reibe mir über die Augen, als mein Blick zur Uhr huscht.  Es ist bereits 20:00 Uhr. Daddy kommt heute früher, also muss ich mich sputen. Ich ziehe mir eine schwarze Jacke über, eine grüne Mütze auf  und meine gepunkteten Gummistiefel an.

Gerade will ich das Haus verlassen, als mir einfällt, dass ich noch etwas sehr Wichtiges vergessen habe. Also sprinte ich zurück zum Wohnzimmer und nehme vorsichtig das Bild von Mummy aus der Vitrine und klemme es unter meine Jacke. 

 Unerwartet ruft eine raue Stimme meinen Namen.  ,,Cathy?"  Meine Augen weiten sich. Daddy ist da! Daddy ist da! Daddy ist da! Verstecken! Oh nein, Schritte nähern sich. Das schaffe ich nie und nimmer rechtzeitig!  Panisch sehe ich mich im Raum um. Aber es gibt nichts, wohinter man sich verstecken könnte. Moment, die Couch! Schnell versuche ich  dahinter zu krabbeln. Aber es ist zu spät. Die Tür geht auf. Ich bin geliefert.

Bleeding WingsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt