Kapitel 1. Ich will dich nicht enttäuschen

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Verängstigt und traurig sitze ich in der Ecke. Ich muss mich klein machen. Er darf mich nicht sehen. Niemand darf das.

Es ist dunkel. Nur der Mondschein erhellt das Zimmer. Ich schlinge die Arme um meine Beine und lehne den Kopf an die Wand. Ich lausche. Nichts ist zu hören.

 Doch, da ist was! Ich höre meine Zähne klappern. Aber es ist doch gar nicht kalt?

 Mit meiner kleinen Hand greife ich zur linken Seite und schaue auf den Gegenstand, der jetzt auf meinen Schoß liegt. Es ist ein Bild. Ein sehr schönes Bild.

 Ihre leuchtend braunen Augen strahlen mich an. Ihre langen, dunkelblonden Haare fallen ihr in Locken über die Schulter. Sie lächelt, auch wenn sie geschafft aussieht. Eine Träne kullert über meine Wange. Schnell streiche ich sie weg. Schließlich sieht mir Mummy von oben zuSie soll nicht sehen, dass ich weine.

 Hinter dem Bilderrahmen ist ein Stück Papier befestigt. Ich ziehe daran und falte es auseinander. Es hat sehr viele Risse und eine leicht bräunliche Farbe angenommen.  ,,Carlson-Street- Junge Frau tödlich verunglückt" Lautet die Überschrift. Ich merke wie mein Herz zu rasen beginnt, dennoch lese ich weiter.

 ,,Eine 32-Jährige ist in der Carlson-Street überfahren und dabei tödlich verletzt worden. Der Unfall ereignete sich am Freitagabend gegen 22 Uhr. Eine junge Frau wollte an der Fußgängerfurt die Straße überqueren. Laut Zeugenaussagen stand die Fußgängerampel auf Rot, als die Frau auf die Straße trat. Dort wurde Sie von einem Pkw eines älteren Mannes erfasst. Der Fahrer trat mit voller Wucht auf die Bremse und versuchte ein Ausweichmanöver. Einen Zusammenstoß konnte er jedoch nicht mehr verhindern. Die Fußgängerin wurde von der linken Seite des Wagens erfasst, auf die Motorhaube geschleudert und schlug mit dem Schädel auf das Kopfsteinpflaster der Fahrbahn. Dort blieb sie schwer verletzt liegen.

Alle Hilfe kam zu spät. Philippa Stirling, als die ihr Mann sie identifizierte, starb noch am selben Abend an ihren Verletzungen.“

 Ich beiße mir auf die Unterlippe. Mummy, du hast mir doch immer beigebracht, ich solle nie bei Rot über die Straße gehen! Warum hast du es dann gemacht? Warum? Bei Grün darfst du gehen, aber nicht bei Rot!  Ich zerknülle den Zeitungsartikel und werfe ihn weit weg. Er landet jedoch nur ein paar Meter vor mir. Ich verfluche mich, das ich es nicht weiter schaffe.

 Plötzlich höre ich ein Poltern.

 ,,Daddy ist da!" Ruft eine mir bekannte Stimme, die wie immer fröhlich gelaunt klingt. Meine schmalen Finger umklammern fest den hölzernen Rahmen des Bildes. Oh Nein. Er ist schon da?! Aber es ist doch erst 21:00Uhr! Wir werden gleich wieder dieses schreckliche Spiel spielen. Ich will das nicht spielen! Es tut so weh. 

 ,,Wo ist meine kleine Cathy?" Ich halte die Luft an. Ich muss etwas sagen. Ich will ihn nicht enttäuschen. Ich hab ihn doch lieb. ,,Ich...Ich bin im Wohnzimmer." Schell verstecke ich das Bild von Mummy hinter der Couch und gleite erneut die Wand hinunter, als feste Schritte sich nähern.  Innerlich schreie ich um mein Leben. Ich schreie nach Mummy und aus Verzweiflung.

Die Wohnzimmertür öffnet sich. Ich sehe die Umrisse eines großen, starken  Mannes. Fest presse ich mich an die Wand, in der Hoffnung, sie könne mir Schutz geben.

 Daddy schaltet das Licht an. Er trägt seinen Geschäftsanzug. In seiner rechten Hand hält er einen Aktenkoffer, den er gleich darauf zu Boden fallen lässt. Seine  Haare sind streng zurückgekämmt. Seine tief-blauen Augen sind mit Freude gefüllt. Aber da ist noch etwas anderes. Da ist…Lust.

 Langsam und bedacht kommt er auf mich zu.

 Jetzt steht er vor mir und geht in die Hocke. Er lächelt. Er lächelt mich auf eine komische Art und Weise an. ,,Da ist ja mein Mädchen." Daddy will mich zu sich ziehen, aber ich weiche aus. Er seufzt. Sein Griff wird stärker. Er umarmt mich.

Für einen Moment ist er wieder normal. Ich vergrabe mein Gesicht in seiner Jacke.

 Es breitet sich Panik in mir aus, als er mich bei der Hand nimmt. ,,Wollen wir etwas Spielen?"  Ich schlucke schwer. Wenn ich nein sage, ist Daddy mir böse. Er wird enttäuscht sein. Ich will ihn nicht enttäuschen. Aber trotzdem würde er mir keine Wahl lassen.

  ,,Ja." Schluchze ich gegen seinen Arm. Zufrieden gibt er mir einen Kuss auf die Wange und zieht hinauf mich zum Schlafzimmer. Ich weine. Ich weine bitterlich, aber das scheint ihn nicht weiter zu interessieren. Er legt mich auf das große Ehebett. Auf die Seite, wo Mummy immer gelegen hat. ,,Mein Engel, ich liebe dich. Ich liebe dich so sehr, das kannst du dir gar nicht vorstellen. Deine Mutter war genauso schön wie du." flüstert er gegen meine Lippen. Halt! Stopp! ich will ihn nicht küssen, nicht so!

  Nun beginnt er mich auszuziehen. Mein Körper zittert.  Er küsst mich, er küsst mich überall. Er soll aufhören! Aber vielleicht hat er ja auch Recht. Er sagt immer, dass dieses Spiel alle Väter mit ihren Töchtern spielen, als Zeichen, dass sie sie lieb haben. Und ich habe ihn doch lieb. Aber es tut nun mal immer weh, wenn ich unter ihm liege!

 So wie jetzt. Ich schreie mir die Seele aus dem Leib. 

 Es wird gleich vorbei sein. Es wird gleich vorbei sein!  Versuche ich mich zu beruhigen, während er lustvoll stöhnt. Aber erst nach ein paar weiteren quälenden Minuten hört er endlich auf.

 Daddy lächelt mich an. ,,Ich bin stolz auf dich, so stolz auf dich Prinzessin! Aber du wirst doch Niemanden von unserem kleinen Spiel erzählen, habe ich Recht?" Mir laufen Tränen über das Gesicht. Der Schmerz hat immer noch nicht nachgelassen.

 ,,Du hast Recht." Winsele ich. Sanft streicht er mir die Tränen aus dem Gesicht und gibt mir einen Kuss auf die Stirn. ,,Sehr gut."

So verschwindet er in der Tür. Ich höre ihn die Treppe hinunter laufen. Langsam setze ich mich auf. Hier riecht es metallisch. Geschockt sehe ich nach unten. Die ganze Matratze ist rot. Blut klebt an meinen Oberschenkeln. Schnell stehe ich auf und gehe duschen. Ich fühle mich komisch, so benutzt. Aber ich habe Daddy nicht enttäuscht. Das ist das Wichtigste.

 Ich trete aus der Dusche und stelle mich auf Zehenspitzen, um in den Spiegel sehen zu können. Meine welligen, tropfnassen Haare kleben an meinen Rücken. Meine dunklen Augen sind weit aufgerissen. Ich bin dünner geworden. Ich sehe für eine Sieben-jährige schon recht alt aus. Traurig tapse ich aus dem Badezimmer, in mein eigenes Bett und lege mich hinein. Die Bettdecke ziehe ich mir bis ans Kinn.

 Mummy, ich bin bald bei dir, hörst du? Du musst nicht mehr ganz allein da oben sein. Ich werde kommen. Ich werde Daddy schrecklich vermissen und er wird sehr verärgert sein, dass ich weg bin…aber ich will dieses Spiel nicht mehr spielen! Ich will, dass er mir nicht mehr weh tut! ! Außerdem konnte ich dir ja noch nicht mal Lebe wohl sagen… Morgen Nacht werde ich zu dir kommen, Mummy. In den Himmel.... Ich hab dich lieb.

Bleeding WingsWo Geschichten leben. Entdecke jetzt