Kapitel 1

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Eomer's Sicht

Verstohlen sah ich zu meiner jüngeren Schwester hinüber, wie sie eleganten Schrittes das Tor zur goldenen Halle durchschritt. Sie bewegte sich grazil und nicht so plump wie unsere Schwester Eowyn. Manchmal schien es mir, als käme Lorana aus einer anderen Welt.

In Gedanken so versunken, hörte ich der Frau die mir gegenüberstand, gar nicht mehr zu. Warum redeten sie auch immer so viel? Wissen sie denn nicht, dass ich keine ernsteren Absichten hatte? Auch darin unterschied sich meine Schwester – sie hörte zu. Natürlich redete sie auch ab und an viel, doch sie wusste immer intuitiv wann es angebracht war, einfach nur still zuzuhören. Es bereitete mir sogar viel Freude, mit ihr stundenlang Gespräche zu führen und auch ihren Wissensdurst über fremde Ländereien zu stillen.

Doch seit kurzem war unser Verhältnis angespannt. Sie missbilligte immer mehr meinen oberflächlichen Umgang mit Frauen. Sie hasste mich für meine Wollust, der ich nur allzu gerne nachkam und mich mit den Frauen lediglich körperlich vergnügte. Lorana bat mich, meine Lebensweise in der Hinsicht zu ändern. Ich wüsste nicht, warum ich dieser Bitte nachkommen sollte.

„Eomer ich habe das Gefühl, dass ihr mir gar nicht zuhört." Fuhr mich meine Begleitung harsch an. Es gab einige Sachen, die ich nicht leiden konnte und darunter zählte eine zickige Bettgefährtin, die irgendwelche Ansprüche stellte oder sich Gefallen einfordern wollte. Ich kehrte auf dem Absatz um und lies die enttäuschte Dame stehen. Unglücklicherweise lief ich dabei Lorana um. Mit einer schnellen Bewegung packte ich sie, um einen schmerzhaften Sturz zu vermeiden.

„Wohin des Weges Schwesterlein?" fragte ich sie neckisch.

„Zum Garten. Und du? Vor wem versuchst du dieses Mal zu fliehen?" ihr Ton war düster und trocken. Es brachte mich zum Lachen. Mit einer Kopfbewegung deutete ich auf die Dame, die wütend gen Ausgang stampfte.

„Lass mich dich begleiten!" forderte ich und reichte ihr meinen Arm. Lorana schien einen Moment zu überlegen, ehe sie Achselzuckend sich bei mir einhakte. Unangenehme Stille begleitete uns auf dem Weg zum Garten.

„Können wir nicht unseren Streit beilegen? Du fehlst mir Lorana." Ich wand meinen Blick zu ihr während ich sprach. Sie blieb abrupt stehen, stellte sich mir gegenüber und musterte mich. Traurigkeit lag in ihren Augen. „Würdest du mir zu Liebe aufhören dich durch ganz Edoras zu huren?" Das war die gleiche Frage, bei der unser Gespräch beim letzten Mal ein jähes Ende fand und die Zeit des Schweigens begann.

Bemüht nicht wütend zu werden, neigte ich meinen Kopf und fragte sie ernst: „Warum kümmert es dich? Was willst du? Soll ich heiraten, sesshaft werden und Kinder zeugen?"

Mit großen, wässrigen Augen sah sie mich an. Täuschte ich mich oder sah ich Leid in ihrem Blick? Sonst sehr Wortgewandt und nicht auf dem Mund gefallen, schien sie in diesem Augenblick ihre Sprache verloren zu haben.

„Ich kann dir deine Fragen nicht beantworten – Bruder. Ich weiß nur ... ich liebe dich und sorge mich um dein Seelenheil..." Sie sah aus, als würde sie den letzten Satz in ihren Gedanken vollenden. Rätselhaft.

„Ich liebe dich auch Lorana! Du weißt, wie sehr ich es hasse, wenn wir im Streit sind! Ich kann es aber auch überhaupt nicht leiden, wenn man versucht, mir Vorschriften zu machen ... vor allem ohne jeden ersichtlichen Grund!"

Lorana straffte sich und schien sich zu einem lächeln zu zwingen. „ Ich weiß ... ich kenne dich nur zu Gut."

Glücklich über ihre Einsicht nahm ich sie in den Arm und drückte sie fest an mich. „Natürlich kennst du mich! Niemand kennt mich besser! Du bist die, der ich am meisten vertraue und der ich mich verbunden fühle. Deswegen bitte ich dich darum, den Streit zu beenden! Ich bin es nicht gewohnt um etwas zu bitten, deswegen werde ich dich nicht noch einmal anbetteln."

Ihr Schnaufen an meiner Brust verriet mir, dass sie lachte – endlich hatte sie es wieder. Gemeinsam schlenderten wir durch den Garten und tauschten uns über Neuigkeiten aus, da wir beinahe 2 Wochen kein Wort miteinander wechselten. Erfreulicherweise ließ sich Lorana überreden, wieder mit mir zu trainieren. Immerhin war ich der Hauptmann von Edoras und sowohl Eowyn als auch Lorana eine Schildmaid. Meine Zwillingsschwester war etwas besser im Schwertkampf, als unsere Jüngere. Dafür machte Lorana mit Pfeil und Bogen eine gute Figur.

Unsere Eltern starben im Kampf, da waren wir alle noch sehr klein. Lorana war die Jüngste von uns. Eowyn und ich waren 1,5 Jahre älter als sie – dennoch hatte ich zu ihr mehr eine Verbindung als zu meiner Zwillingsschwester. Ich empfand einfach anders für Lorana. Mein Beschützerinstinkt war ausgeprägter und ich war wahrlich wählerisch mit den Männern, die um sie werben durften. Keiner war mir bisher gut genug, den ich auch nur ansatzweise in Betracht zog als ihr Ehemann. Glücklicherweise vertraute mir meine Schwester und beklagte sich nie über meine Entscheidungen. Eowyn wiederum stellte mir bisher noch nie jemanden vor, an dem sie Interesse hätte und wimmelte von sich aus alle Bewerber ab.

Als Einziger verbliebener Mann in dieser Blutlinie musste ich mich um beide gut kümmern. Für mich gibt es keine bessere Vorbereitung, als sie hart zu trainieren, damit sie sich selbst verteidigen konnten, wenn ich nicht zur Stelle sein konnte. Ohne Zweifel würde ich alles für das Wohl meiner Schwestern tun. Vielleicht würde ich mich sogar mit der Damenwelt etwas zurückhalten, wenn es Lorana scheinbar so viel Kummer bereitete.

Der Spaziergang zog sich in die Länge, so dass es bereits dämmerte. Ich ließ mich auf eine Bank nieder, um meine müden Füße auszuruhen. Lorana tat es mir gleich, sprang aber erschrocken wieder auf. Belustigt fragte ich sie: „Was hast du?"

Mürrisch antwortete sie: „Der Stein ist eiskalt, das tut bestimmt meiner Blase nicht gut." Sie war wahrlich kälteempfindlich und immerzu die Erste, die krank wurde, wenn der Winter kam. Ich packte sie an den Hüften und bugsierte sie auf meinen Schoß. Lachend ließ sie es sich gefallen. Ihren Rücken mir zugewandt bewunderte sie den Sonnenuntergang. Ich legte meine Arme um sie und meinen Kopf auf ihre Schultern ab. Schweigend und versöhnt betrachteten wir das Spektakel was die Sonne trieb. Ich fühlte mich wohlig warm, geborgen und irgendwie auch merkwürdig – angenehm merkwürdig und ich wollte dieses merkwürdige Gefühl auch gar nicht mehr missen.

Als die Sonne von dem Mond abgelöst wurde, erinnerte ich Lorana an das morgige Training, welches in der Früh stattfand. Den Wink mit dem Zaunpfahl verstehend machte sie sich auf zu Ihrem Gemach. Ich begleitete sie natürlich, bis sich unsere Wege an einer Gabelung trennten. Zum Abschied umarmte ich sie noch einmal – wie immer. Meine Schwester überraschte mich, als sie mir einen Kuss auf die Wange gab und beschwingt ihren Weg einschlug ohne eines weiteren Wortes.

Bruderherz (Eomer FF (beendet))Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt