"Sind wir gleich da?", fragt meine kleine Schwester ungeduldig.
"Ja, Suzie. Nur noch den Berg rauf und dann in die Straße rechts einbiegen, das weißt du doch", teile ich ihr mit.
"Meine Füße tun weh! Und meine Beine! Und meine Ohren!", jammert sie.
Ich setze ihr gedankenverloren ihre Kapuze auf. "So weit ist es doch wirklich nicht vom Kindergarten zurück bis nach Hause. Du läufst den Weg doch jeden Tag."
"Außer Mum holt mich ab! Und Laufen ist so langweilig!"
"Dann hättest du heute morgen nicht dein Laufrad vergessen sollen."
Suzie murmelt noch etwas Unverständliches und trottet dann weiter schweigend neben mir her. Zweimal in der Woche hole ich meine Schwester nachmittags aus dem Kindergarten ab und das ist extrem anstrengend. Da sie heute ihr Laufrad zu Hause vergessen hat, ist es noch anstrengender.
"Jetzt sei nicht beleidigt. Zu Hause mache ich dir auch eine heiße Schokolade", versuche ich sie zu überreden.
"Ich will aber auch Kekse dazu!"
"Von mir aus", murmele ich seufzend.
Die Blätter an den Bäumen des Fußgängerweges sind rot, orange und gelbgolden gefärbt. Der Herbstwind weht und ich kuschele mich tiefer in meine Jacke. Ich mag den Herbst, oder eher gesagt das Panorama, das er uns bietet. Aber ich frage mich, warum es jetzt gerade so verdammt kalt sein muss.
"Ich mag nicht mehr laufen", höre ich die nörgelnde Stimme meiner Schwester.
"Suzie, jetzt reiß dich mal zusammen. Ab Sonntag sind wir bei Grandma und Grandpa in Schottland. Da werden wir ganz viel wandern. Hier das ist noch gar nichts im Gegensatz dazu. Außerdem musst du nur noch jetzt und morgen diesen Weg laufen. Dann sind ja Ferien", versuche ich sie aufzumuntern, obwohl mir langsam der Geduldsfaden reißt.
Aber die Vorfreude ist groß, auch wenn die Ferien kurz sind. Endlich abschalten und nichts tun. Ich denke an Jasmine, die ab morgen Abend schon in Liverpool sein wird. Ich freue mich für sie, aber ich werde sie sehr vermissen, obwohl wir nur eine Woche voneinander getrennt sind.
Meine Gedanken schweifen zu Jasper. So wie ich es verstanden habe, wird er die ganzen Ferien hier bleiben. Unsere gespielte Beziehung geht jetzt schon eine Weile und es ist...okay. Eigentlich mehr als okay. Wie Jasmine und Naira es prophezeit haben, kümmert sich die Schule nicht mehr so sehr darum. Natürlich bekomme ich noch neugierige als auch neidische Blicke zugeworfen, aber die meisten haben es sozusagen akzeptiert. Es ist nicht mehr das Top-Thema der Schule, worüber ich sehr froh bin. Auch Loreen hat seit dem letzten Post, in dem sie bestätigte, dass wir zusammen wären - Sie hat es live mitbekommen! - Ruhe gegeben. Überhaupt nehme ich das Ganze jetzt auch etwas lockerer und bald ist es auch wieder vorbei. Dann müssen wir nicht mehr so tun, als wären wir zusammen. Schade eigentlich.
Nicht, weil ich dann nicht mehr Jaspers "Freundin" bin, sondern weil dann wieder das nächste Drama auf Loreens Blog veröffentlicht wird. Dann müssen wir uns noch einen guten und vor allem glaubwürdigen Trennungsgrund überlegen.
Aber bis dahin ist noch Zeit. Ich sollte überhaupt nicht darüber nachdenken. Über ihn nachdenken.
Was Naira wohl die ganzen Ferien macht? Sie sagte bereits, dass sie nichts vorhabe. Vielleicht können wir uns auch einmal treffen. Sonst werden meine Ferien zu langweilig.
Ich denke an Mum, die noch auf der Arbeit ist und schuftet wie eine Verrückte. Dabei müsste sie das eigentlich nicht, wenn Dad nicht diese verflixte Gehaltserniedrigung bekommen hätte. Was er wohl gerade macht? Es müsste jetzt morgens früh bei ihm sein, schätzungsweise zehn oder elf Uhr. Wahrscheinlich ist er gerade schon am Arbeiten. Oder er frühstückt. Dad liebt Frühstücken. Besonders gerne spät morgens, aber dafür umso länger. Ich lächle, obwohl sich ein Kloß in meinem Hals ausbreitet. Ich vermisse ihn.
DU LIEST GERADE
Higher Love
Teen Fiction"Ich könnte meine Meinung noch ändern." "Wirklich?" Hoffnungsvoll sehe ich ihn an. "Wenn du mir einen Gefallen tust." "Was für einen Gefallen?" Grace und ihre beste Freundin Jasmine sind von klein auf unzertrennlich. Schon seit dem Kindergarten ken...