Kapitel 31 ✔️

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E R Z Ä H L E R

An diesem Abend ging Harry früher als alle andern zu Bett.
Zum einen würde er es nicht ertragen, Fred und George noch einmal „Seine Augen, so grün wie frisch gepökelte Kröte" singen zu hören, zum andern wollte er sich Riddle's Kalender genau ansehen und er wusste, dass Ron dies für Zeitverschwendung hielt.
Harry saß auf seinem Himmelbett und blätterte durch die leeren Seiten.
Auf keiner einzigen war auch nur eine Spur scharlachroter Tinte.
Dann zog er ein neues Fässchen aus seinem Nachtschrank, tauchte die Feder hinein und ließ einen Tropfen auf die erste Seite des Tagebuchs fallen.
Eine Sekunde lang leuchtete die Tinte hell auf dem Papier und dann, als würde sie in das Blatt hineingesaugt, verschwand sie.
Aufgeregt tunkte Harry die Feder ein zweites Mal ein und schrieb: „Mein Name ist Harry Potter."
Die Worte leuchteten sekundenlang auf dem Blatt und dann verschwanden auch sie spurlos.
Dann, endlich, geschah etwas.
Aus dem Blatt heraus drangen, in seiner eigenen Tinte, Wörter, die Harry nicht geschrieben hatte.
„Hallo, Harry Potter. Mein Name ist Tom Riddle. Wie kommst du an mein Tagebuch?"
Auch diese Worte verblassten, doch nicht bevor Harry zurückgekritzelt hatte.
„Jemand hat versucht, es ins Klo zu spülen."
Gespannt wartete er auf Riddle's Antwort.
„Ein Glück, dass ich meine Erinnerungen auf dauerhaftere Weise mit Tinte festgehalten habe. Aber ich wusste immer, dass es einige gibt, die nicht wollen, dass dieses Tagebuch gelesen wird."
„Was meinst du damit?", krakelte Harry und bekleckste vor Aufregung die Seite.
„Ich will sagen, dass dieses Tagebuch Erinnerungen an schreckliche Dinge enthält. Dinge, die vertuscht wurden. Dinge, die an der Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberei geschahen."
„Da bin ich gerade.", schrieb Harry rasch. „Ich bin in Hogwarts und furchtbare Sachen sind passiert. Weißt du etwas über die Kammer des Schreckens?"
Sein Herz hämmerte.
Riddle's Antwort kam schnell, seine Schrift wurde schludriger, als wollte er eilends alles erzählen, was er wusste.
„Natürlich weiß ich von der Kammer des Schreckens. Zu meiner Zeit haben sie uns erzählt, es sei nur eine Legende und es gebe sie nicht. Aber das war eine Lüge. In meinem fünften Schuljahr wurde die Kammer des Schreckens geöffnet und das Monster hat mehrere Schüler angegriffen und schließlich einen getötet. Ich habe die Person erwischt, die die Kammer geöffnet hat, und sie wurde verstoßen. Doch der Schulleiter, Professor Dippet, schämte sich, dass so etwas in Hogwarts geschehen war, und verbot mir, die Wahrheit zu sagen. Sie haben ein Märchen erfunden, wonach das Mädchen bei einem tragischen Unfall ums Leben gekommen sei. Sie haben mir eine hübsche, glänzende Medaille mit eingeprägter Widmung gegeben und mich ermahnt, den Mund zu halten. Doch ich wusste, dass es wieder geschehen konnte. Das Monster lebte weiter, und derjenige, der die Macht hatte, es loszulassen, kam nicht ins Gefängnis."
Harry stieß sein Tintenfass um, so eilig hatte er es mit der Antwort.
„Es geschieht jetzt wieder. Es gab drei Angriffe und keiner scheint zu wissen, wer dahinter steckt. Wer war es das letzte Mal?"
„Ich kann es dir zeigen, wenn du willst.", antwortete Riddle. „Du brauchst meinen Worten nicht zu glauben. Ich kann dich in mein Gedächtnis von jener Nacht, in der ich ihn gefangen habe, hereinholen."
Harry zögerte und hielt die Feder über das Tagebuch.
Was meinte Riddle damit? Wie konnte er in das Gedächtnis einer anderen gelangen?
Nervös blickte er zur Tür des Schlafsaals, in dem es nun dunkel wurde.
Als sein Blick wieder auf das Buch fiel, sah er, wie sich neue Worte bildeten.
„Ich will es dir zeigen."
Harry hielt für den Bruchteil einer Sekunde inne und schrieb dann ein Wort.
„Okay."
Die Blätter des Tagebuchs begannen zu flattern, als ob ein Wind sie erfasst hätte.
Als sich der Wirbel legte, waren die Seiten für Mitte Juni aufgeschlagen.
Mit offenem Mund sah Harry, dass sich das kleine Quadrat für den 13. Juni offenbar in einen winzigen Bildschirm verwandelt hatte.
Mit leicht zitternden Händen hob er das Buch und drückte ein Auge gegen das kleine Fenster, und bevor er wusste, wie ihm geschah, kippte er nach vorn; das Fenster weitete sich, er spürte, wie sein Körper das Bett verließ und er kopfüber durch die Öffnung gezogen wurde, hinein in einen Wirbel aus Farbe und Schatten.
Seine Füße berührten festen Grund.
Am ganzen Körper zitternd richtete er sich auf und die verschwommenen Formen um ihn her nahmen plötzlich Gestalt an.
Sofort wusste er, wo er war.
Dieser kreisende Raum mit den schlafenden Porträts war Dumbledores Büro - doch hinter dem Schreibtisch saß nicht Dumbledore.
Ein verhutzelter, gebrechlich aussehender Zauberer, kahlköpfig mit Ausnahme einiger Strähnen weißen Haares, las bei Kerzenlicht einen Brief.
Harry hatte diesen Mann noch nie gesehen.
„Es tut mir leid.", sagte er zitternd. „Ich wollte hier nicht reinplatzen."
Doch der Zauberer sah nicht auf.
Ein wenig stirnrunzelnd las er weiter.
Harry trat näher an den Schreibtisch heran und stammelte: „Ähm, ich gehe einfach, oder?"
Der Zauberer beachtete ihn immer noch nicht.
Er schien ihn nicht einmal gehört zu haben.
Harry überlegte, ob er vielleicht schwerhörig sei und hob die Stimme.
„Tut mir Leid, dass ich Sie gestört habe, ich gehe jetzt.", schrie er beinahe.
Der Zauberer faltete mit einem Seufzer den Brief zusammen, stand auf, ging an Harry vorbei, ohne ihm auch nur einen Blick zuzuwerfen und zog die Vorhänge am Fenster auf.
Der Himmel draußen war rubinrot; offenbar war Sonnenuntergang.
Der Zauberer ging zum Schreibtisch zurück, setzte sich und beobachtete Däumchen drehend die Tür.
Harry sah sich im Büro um.
Kein Phönix, keine surrenden Gerätschaften.
Dies war Hogwarts, wie Riddle es kennengelernt hatte, und dieser unbekannte Zauberer war der Schulleiter, nicht Dumbledore, und er, Harry, war ein für die Menschen vor fünfzig Jahren unsichtbares Phantom.
Es klopfte an der Tür.
„Herein.", sagte der alte Zauberer mit schwacher Stimme.
Ein Junge von etwas 16 Jahren trat ein und nahm seinen Spitzhut ab.
Auf seiner Brust schimmerte das silberne Abzeichen des Vertrauensschülers.
Er war viel größer als Harry, doch auch er hatte rabenschwarzes Haar.
„Ah, Riddle.", sagte der Schulleiter.
„Sie wollten mich sprechen, Professor Dippet?", sagte Riddle.
Es sah nervös aus.
„Setzen Sie sich.", sagte Dippet. „Ich habe eben Ihren Brief gelesen."
„Oh.", sagte Riddle.
Er setzte sich und klammerte die Hände fest zusammen.
„Mein lieber Junge", sagte Dippet freundlich, „ich kann Sie unmöglich den Sommer über hier in der Schule lassen. Gewiss möchten Sie in den Ferien nach Hause?"
„Nein.", sagte Riddle sofort. „Ich würde viel lieber in Hogwarts bleiben, als in dieses... in dieses..."
„Sie leben in einem Waisenhaus der Muggel, nicht wahr?", sagte Dippet neugierig.
„Ja, Sir.", sagte Riddle und errötete leicht.
„Sie stammen aus einer Muggelfamilie?"
„Halbblüter, Sir.", sagte Riddle. „Vater, Muggel, Mutter, Hexe."
„Und beide Eltern sind -?"
„Meine Mutter starb, kurz nachdem ich geboren wurde, Sir. Im Waisenhaus haben Sie mir gesagt, sie habe mir noch meinen Namen geben können - Tom nach meinem Vater, Vorlost nach meinem Großvater."
Mitfühlend schnalzte Dippet mit der Zunge.
„Die Sache ist die, Tom.", seufzte er. „Man hätte für Sie vielleicht eine Ausnahme machen können, aber unter den gegenwärtigen Umständen..."
„Sie meinen all die Angriffe, Sir?", sagte Riddle und Harrys Herz begann zu pochen.
Er trat näher, aus Angst, es könnte ihm etwas entgehen.
„Genau.", sagte der Schulleiter. „Mein lieber Junge, Sie müssen einsehen, wie dumm es von mir wäre, wenn ich Sie nach Ende des Schuljahres im Schloss bleiben ließe. Besonders im Licht der jüngsten Tragödie... des Todes dieses armen kleinen Mädchens... In Ihrem Waisenhaus sind Sie bei weitem sicherer. Übrigens überlegt man im Zaubereiministerium gerade, ob man die Schule schließen soll. Wir sind der - ähm - Quelle dieser Unannehmlichkeiten bisher keinen Schritt näher gekommen..."
Riddle's Augen hatten sich geweitet.
„Sir, wenn diese Person gefangen würde - wenn alles aufhören würde -"
„Was meinen Sie damit?", fragte Dippet mit einem Quieken in der Stimme und richtete sich in seinem Stuhl auf. „Riddle, wollen Sie sagen, dass Sie etwas über diese Angriffe wissen?"
„Nein, Sir.", sagte Riddle rasch.
Doch Harry war sich sicher, dass es das gleiche „Nein" war, mit dem er Dumbledore geantwortet hatte.
Dippet sank zurück und wirkte ein wenig enttäuscht.
„Sie können gehen, Tom..."
Riddle stand auf und ging aus dem Zimmer.
Harry folgte ihm.
Sie ließen sich von der Wendeltreppe hinabtragen und kamen beim Wasserspeier im nun fast dunklen Korridor heraus.
Riddle hielt inne, und Harry, ihn unverwandt ansehend, tat es ihm gleich.
Er konnte erkennen, dass Riddle angestrengt nachdachte.
Riddle biss sich auf die Unterlippe, die Stirn in Falten gelegt.
Dann, als hätte er plötzlich eine Entscheidung getroffen, stürmte er los.
Harry glitt geräuschlos neben ihm her.
Sie sahen niemand anderen, bis sie die Eingangshalle erreicht hatten, wo ein großer Zauberer mit langem, wehendem, kastanienbraunem Haar und Bart von der Marmortreppe aus rief: „Was streunen Sie so spät hier herum, Tom?"
Harry starrte den Zauberer mit offenem Mund an.
Es war kein anderer als der fünfzig Jahre jüngere Dumbledore.
„Der Schulleiter wollte mich sprechen, Sir.", sagte Riddle.
„Gut, nun aber rasch ins Bett.", sagte Dumbledore und starrte Riddle genauso durchdringend an, wie es Harry schon von ihm kannte. „Jetzt sollte man lieber nicht in den Gängen umherwandern. Nicht, seit..."
Er seufzte tief, wünschte Riddle eine gute Nacht und schritt davon.
Riddle wartete, bis er außer Sicht war und ging dann mit raschen Schritten die steinernen Treppen zu den Kerkern hinunter, Harry dicht auf seinen Fersen.
Doch zu Harry's Enttäuschung führte ihn Riddle nicht in einen versteckten Gang oder einen Geheimtunnel, sondern in eben den Kerker, in dem Harry Zaubertrankunterricht bei Snape hatte.
Die Fackeln waren nicht entzündet worden und als Riddle die Tür bis auf einen Spaltbreit zuschob, konnte Harry nur noch Riddle sehen, der reglos an der Tür stand und den Gang draußen beobachtete.
Harry hatte das Gefühl, sie hatten mindestens eine Stunde lang so dagestanden.
Alles, was er sehen konnte, war die Gestalt Riddle's an der Tür, die durch den Spalt lugte und wie versteinert wartete.
Und gerade als Harry's Neugier und Spannung nachgelassen hatten und er sich allmählich wünschte, wieder in die Gegenwart zurückzukehren, hörte er, wie sich vor der Tür etwas bewegte.
Jemand kroch den Gang entlang.
Er hörte ihn, wer immer es war, an dem Kerker vorbeigehen, in der er und Riddle sich versteckt hatten.
Stumm wie ein Schatten glitt Riddle durch die Tür und schlich ihm nach, und Harry, der ganz vergessen hatte, das niemand ihn hören konnte, ging auf Zehenspitzen hinterher.
Etwa fünf Minuten lang folgten sie den Schritten, bis Riddle plötzlich anhielt und den Kopf neigte.
Neue Geräusche drangen an ihre Ohren.
Harry hörte eine Tür knarrend aufgehen und dann eine raue flüsternde Stimme: „Komm... muss dich hier rausbringen... komm jetzt... in die Kiste..."
Etwas an dieser Stimme kam ihm vertraut vor...
Plötzlich machte Riddle einen Sprung um die Ecke und Harry konnte den dunklen Umriss eines riesigen Jungen erkennen, der vor einer offnen Tür kauerte, neben ihm eine große Kiste.
„Schönen Abend, Rubeus.", sagte Riddle mit schneidender Stimme.
Der Junge schlug die Tür zu und richtete sich auf.
„Was machst du denn hier, Tom?"
Riddle trat näher.
„Es ist aus.", sagte er. „Ich muss dich anzeigen, Rubeus. Man spricht schon darüber, Hogwarts zu schließen, wenn die Angriffe nicht aufhören."
„Was m-meinst -"
„Ich glaube nicht, dass du jemanden töten wolltest. Aber Monster geben keine guten Haustiere ab. Ich denke, du hast es nur zum Üben rausgelassen und -"
„Es hat nie einen umgebracht!", sagte der riesige Junge und sich gegen die geschlossene Tür zurück.
Hinter der hörte Harry ein merkwürdiges Rascheln und Klicken.
„Mach schon, Rubeus.", sagte Riddle und trat noch näher. „Die Eltern des toten Mädchens kommen morgen. Das Mindeste, was Hogwarts tun kann, ist, dafür zu sorgen, dass das Wesen, das sie getötet hat, geschlachtet wird..."
„Er war es nicht!", polterte der Junge und seine Stimme hallte in den dunklen Gang wider. „Er würd's nie tun! Er nie!"
„Geh zur Seite.", sagte Riddle und zückte seinen Zauberstab.
Sein Zauberspruch tauchte den Gang jäh in flammendes Licht.
Die Tür hinter dem riesigen Jungen flog mit solcher Wucht auf, dass sie ihn an die Wand gegenüber warf.
Und heraus drang etwas, das Harry einen langen, durchdringenden Schrei entfahren ließ, den niemand hören konnte -
Ein riesiger, lang gezogener, haariger Körper und ein Gewirr schwarzer Beine; ein Glimmen vieler Augen und ein Paar rasiermesserscharfer Greifzangen - noch einmal hob Riddle seinen Zauberstab, doch es war zu spät.
Das Wesen warf ihn zu Boden, krabbelte den Gang entlang davon und verschwand.
Riddle rappelte sich auf und sah ihm nach, doch der riesige Junge stürzte sich auf ihn, packte seinen Zauberstab und warf ihn laut schreiend erneut zu Boden: „NEIIIIIIIN!"
Und vor Harry's Augen begann sich alles zu drehen, nun war alles schwarz, Harry hatte das Gefühl zu fallen und hart aufzuprallen.
Er landete, alle viere von sich gestreckt, auf seinem Bett im Schlafsaal der Gryffindor's, Riddle's Tagebuch aufgeschlagen auf seinem Bauch.
Noch bevor er wieder ruhig Luft holen konnte, ging die Schlafsaaltür auf und Ron kam herein.
„Da bist du ja.", sagte er.
Harry setzte sich auf.
Er schwitzte und zitterte.
„Was ist los?", fragte Ron besorgt und sah ihn besorgt an.
„Es war Hagrid, Ron. Hagrid hat die Kammer des Schreckens vor fünfzig Jahren geöffnet."

Luna Black 2 - Harry PotterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt