Kapitel 34 ✔️

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L U N A

Langsam zog der Sommer über die Ländereien des Schlosses.
Himmel und See färbten sich grünblau und in den Gewächshäusern trieben Blumen kohlkopfgroße Blüten aus.
Doch ohne Hagrid, den Harry und ich oft vom Fenster aus beobachtet hatten, wie er mit Fang auf den Fersen umherschlenderte, kam es uns so vor, als stimmte an diesem Bild etwas nicht.
Und nicht besser war es drinnen im Schloss, wo die Dinge so fürchterlich falsch liefen.
Harry, Ron und ich hatten versucht Mine zu besuchen, doch Besuche im Krankenflügel waren jetzt verboten.
„Wir gehen kein Risiko mehr ein.", erklärte uns Madame Pomfrey mit strenger Miene durch einen Spalt in der Hospitaltür. „Nein, tut mir leid, es könnte durchaus sein, dass der Angreifer zurückkommt, um seine Opfer endgültig zu erledigen..."
Seit Dumbledore fort war, hatte sich eine mir unbekannte Furcht im Schloss breit gemacht und die Sonne, die die Schlossmauern draußen erwärmte, schien an den Doppelfenstern halt zu machen.
In der Schule sah man kaum ein Gesicht, das nicht besorgt und angespannt wirkte, und alles Lachen, das durch die Gänge hallte, klang schrill und unnatürlich und erstarb rasch.
Ich rief mir immer wieder die letzten Worte Dumbledore's in Erinnerung: „Ich werde die Schule erst dann endgültig verlassen, wenn mir hier keiner mehr die Treue hält... Wer immer in Hogwarts um Hilfe bittet, wird sie auch bekommen."
Doch was nützten diese Worte?
Wen sollten wir denn um Hilfe rufen, wenn alle andern genauso ratlos und verängstigt waren?
Hagrid's Fingerzeig auf die Spinnen war viel leichter zu verstehen - das Problem war nur, dass im Schloss offenbar keine einzige Spinne mehr übrig geblieben war, der wir hätten folgen können.
Wo immer Harry auch hinging, hielt er Ausschau nach einer Spinne und Ron und ich halfen ihm dabei (Ron, wenn auch eher widerstrebend).
Natürlich störte uns das Verbot, allein umherwandern, und die anderen Gryffindors waren immer dabei.
Wie eine Schafherde wurden wir von den Lehrern von Klassenzimmer zu Klassenzimmer geführt und die meisten schienen froh darüber zu sein, doch ich fand es sehr lästig.
Einer jedoch schien die Stimmung aus Angst und Misstrauen von ganzem Herzen zu genießen.
Draco stolzierte in der Schule herum, als ob er gerade zum Schulsprecher ernannt worden wäre.
Worüber Draco sich so freute, wurde mir erst gut zwei Wochen nach Dumbledore's und Hagrid's Fortgang klar.
Im Zaubertrankunterricht, wo ich eine Reihe hinter Draco saß, hörte ich ihn vor Crabbe und Goyle prahlen.
„Ich hab immer gewusst, dass Vater es schaffen wird, Dumbledore aus dem Weg zu räumen.", sagte er, ohne sich groß anzustrengen, leise zu sprechen. „Hab euch ja gesagt, seiner Meinung nach ist Dumbledore der schlechteste Schulleiter, den die Schule je gehabt hat. Vielleicht kriegen wir jetzt einen anständigen Rektor. Jemand, der gar nicht will, dass die Kammer des Schreckens geschlossen wird. McGonagall wird nicht lange bleiben, sie ist nur eingesprungen..."
Snape rauschte an Harry und mir vorbei, der neben mir saß, ohne ein Wort über Mine's leeren Platz und Kessel zu verlieren.
„Sir.", sagte Draco laut, „Sir, warum bewerben Sie sich nicht um das Amt des Schulleiters?"
„Schon gut, Malfoy.", sagte Snape, auch wenn er ein dünnlippiges Lächeln nicht unterdrücken konnte. „Professor Dumbledore ist von den Schulräten nur beurlaubt worden, ich würde sagen, er wird schon bald wieder bei uns sein."
„Ja, schon.", sagte Draco hämisch grinsend. „Ich bin mir aber sicher, mein Vater würde für Sie stimmen, Sir, wenn Sie sich um die Stelle bewerben - ich jedenfalls werde Vater sagen, dass Sie der beste Lehrer an der Schule sind, Sir -"
Mit einem gekünstelten Lächeln rauschte Snape davon.
Glücklicherweise bemerkte er Seamus nicht, der so tat, als erbreche er sich in seinen Kessel.
„Es überrascht mich doch, dass die Schlammblüter inzwischen nicht alle die Koffer gepackt haben.", fuhr Draco fort. „Wette fünf Galleonen, dass der nächste stirbt. Schade -"
„Draco, ich glaube das reicht jetzt. Wir wissen jetzt dass du Muggelstämmige nicht magst, aber eine davon ist meine Freundin, also... vermeide bitte dieses Thema, wenn ich direkt hinter dir sitze.", bat ich ihn und in diesem Moment läutete die Glocke.
Ich sah Draco noch nicken, dann packte er seine letzten Sachen in seine Schultasche.
„Beeilung, ich muss euch zu Kräuterkunde bringen.", bellte Snape über unsere Köpfe hinweg und wir marschierten in Zweierreihen los.
Harry und ich bildeten die Nachhut und schleppten Ron hinter uns her, der keinen Bock mehr hatte.
Erst als Snape am Schlossportal zurückgeblieben war und uns durch das Gemüsefeld hinüber zu den Gewächshäusern gingen, konnten wir Ron loslassen.
In Kräuterkunde herrschte gedrückte Stimmung; jetzt fehlen schon zwei von ihnen, Justin und Mine.
Professor Sprout gab uns die Aufgabe, die abessinischen Schrumpelfeigenbäume zu beschneiden.
Harry und ich gingen mit einem Arm voll verdorrter Stiele hinüber zum Komposthaufen.
Dort stand Ernie Macmillan und suchte seinen Blick.
Ernie holte tief Luft und sagte sehr höflich:
„Ich wollte dir nur sagen, Harry, dass es mit Leid tut, dass ich dich verdächtigt habe. Ich weiß, du würdest niemals Hermine Granger angreifen und ich entschuldige mich für all das Zeug, das ich gesagt habe. Wir sitzen jetzt alle im selben Boot und na ja -"
Er streckte seine plumpe Hand aus und Harry schüttelte sie.
Ernie und seine Freundin Hannah arbeiten am selben Schrumpelfeigenbaum und kamen zu Harry, Ron und mir herüber.
„Dieser Typ, Draco Malfoy.", sagte Ernie, während er vertrocknete Stiele abknickte, „der scheint sich über die ganze Geschichte riesig zu freuen. Wisst ihr, ich glaube, er könnte der Erbe Slytherin sein."
„Das ist schlau von dir.", sagte Ron, der Ernie offenbar nicht so breitwillig verziehen hatte wir Harry und ich.
Jeder verdient eine zweite Chance, hat mir Remus immer gesagt.
„Glaubst du, es ist Malfoy, Harry?", fragte Ernie.
„Nein.", sagte Harry so bestimmt, dass Ernie und Hannah ihn verdutzt anstarrten.
Eine Sekunde später bemerkte Harry und ich etwas, das mich zwang, Ron mit meiner Gartenschere eins über die Hände zu geben.
Au! Was soll -"
Harry und ich deuteten auf den Boden ein paar Meter vor uns.
Mehrere große Spinnen krabbelten über die Erde.
„Oh ja.", sagte Ron und versuchte - vergeblich - eine erfreute Miene aufzusetzen. „Aber wir können ihnen jetzt nicht folgen -"
Ernie und Hannah hörten uns neugierig zu.
Harry und ich sahen den flüchtenden Spinnen nach.
„Sieht aus, als seien sie auf dem Weg in den Verbotenen Wald..."
Daraufhin sah Ron nicht glücklicher aus.
Nach Ende der Stunde führte uns Professor Snape hinüber in Verteidigung gegen die dunklen Künste.
Harry, Ron und ich ließen uns ein wenig zurückfallen, um ungestört reden zu können.
„Wir brauchen noch einmal den Tarnumhang.", sagte Harry. „Wir können Fang mitnehmen. Er geht mit Hagrid öfter in den Wald und könnte uns vielleicht nützen."
„Stimmt.", sagte Ron, der seinen Zauberstab nervös in den Fingern drehte. „Ähm - soll es nicht - soll es nicht Werwölfe im Wald geben?", fügte er hinzu, als wir unsere Stammplätze ganz hinten in Lockhart's Klassenzimmer eingenommen hatten.
Was haben denn alle mit den Werwölfen?
Harry wollte anscheinend auf die Frage lieber nicht antworten und sagte: „Es gibt dort auch gutes. Die Zentauren sind in Ordnung und die Einhörner..."
Ron war nie im Verbotenen Wald gewesen.
Harry und ich hatten ihn nur einmal betraten und seither gehofft, es nie wieder tun zu müssen.
Lockhart kam hereingestürmt und die Klasse starrte ihn an.
Alle anderen Lehrer der Schule wirkten bedrückter als sonst, doch Lockhart kam uns geradezu ausgelassen vor.
„Na, was denn?", rief er umherstrahlend. „Warum all die langen Gesichter?"
Wir tauschten ärgerliche Blicke, doch keiner antwortete.
„Ist euch eigentlich nicht klar.", sagte Lockhart langsam, als wären wir alle ein bisschen einfältig, „dass die Gefahr vorüber ist! Der Schurke wurde abgeführt -"
„Sagt wer?", rief Dean Thomas.
„Mein lieber junger Mann, der Zaubereiminister hätte Hagrid nicht festgenommen, wenn er sich nicht hundertprozentig sicher wäre, dass er der Schuldige ist.", meinte Lockhart im Ton eines Lehrers, der erklären muss, dass eins und eins zwei ergibt.
„Oh doch, das würde er.", sagte Ron noch lauter als Dean.
„Ich schmeichle mir, ein klein wenig mehr über Hagrid's Festnahme zu wissen als Sie, Mr. Weasley.", sagte Lockhart selbstzufrieden.
Ron wollte schon wieder was sagen, als Harry ihm gegen das Schienbein trat und ich ihm einen Rippenstoß gab.
„Wir waren nicht dabei, klar?", zischelte Harry.
Doch Lockhart's abstoßende Fröhlichkeit, seine Andeutungen, er habe ohnehin nie gutes von Hagrid gehalten, seine Zuversicht, dass die Angelegenheit nun abgeschlossen sei - das alles ärgerte mich dermaßen, dass ich große Lust hatte, Gammeln mit Ghulen in Lockhart's dummes Gesicht zu schmeißen.
Harry kritzelte eine Notiz für mich und Ron.
Tun wir's heute Nacht."
Ron und ich lasen den Zettel, Ron schluckte krampfhaft und wir beide sahen hinüber zu dem leeren Platz, auf dem sonst Mine saß.
Der Anblick bestärkte uns offenbar in unserem Entschluss und wir nickten.

Im Gemeinschaftsraum der Gryffindors war jetzt immer viel los, denn ab sechs Uhr durften wir nirgendwo anders hingehen.
Außerdem hatten wir viel zu besprechen und die Folge war, dass sich der Gemeinschaftsraum oft erst um Mitternacht leerte.
Harry ging nach dem Abendessen hoch, um den Tarnumhang zu holen.
Den ganzen Abend hockte er darauf und wartete, dass die andern endlich zu Bett gehen würden.
Fred und George forderten Harry, Ron und mich zu ein paar Spielen „Snape explodiert" heraus und Ginny saß ganz niedergeschlagen auf Mine's Stammplatz und sah uns zu.
Harry, Ron und ich versuchten die Spiele rasch zu beenden und verloren dauernd mit Absicht, dennoch war es schon weit nach Mitternacht, als Fred, George und Ginny endlich zu Bett gingen.
Harry, Ron und ich warteten, bis wir weiter oben im Turm zwei Schlafsaaltüren zugehen hörten, dann warfen wir uns den Tarnumhang über und kletterten durch das Porträtloch.
Wieder war es eine schwierige Wanderung durch das Schloss, bei der wir vielen Lehrern ausweichen mussten, bis wir endlich die Eingangshalle erreichten.
Wir entriegelten das eichene Tor und schoben es auf, wobei wir Acht gaben, dass es nicht knarrte.
Dann traten wir hinaus auf das mondbeschienene Schlossgelände.
„Kann natürlich sein,", sagte Ron urplötzlich, während wir über das schwarze Gras marschierte, „dass wir zum Wald kommen und dann nicht wissen, wie weiter. Die Spinnen sind vielleicht gar nicht dorthin gekrabbelt. Ich weiß, es sah so aus, als ob sie grob in die Richtung gegangen seien, aber ..."
Hoffnungsvoll verlor sich seine Stimme in der Dunkelheit.
Wir erreichten Hagrid's Hütte, die mit ihren leeren Fenstern traurig und wehmütig aussah.
Harry stieß die Tür auf und als Fang uns erkannte, spielte er verrückt vor Freude.
Aus Sorge, er könnte mit seinem tiefen, donnernden Bellen das ganze Schloss aufwecken, gaben wir ihm hastig Sirupbonbons aus einer Dose auf dem Kaminsims zu fressen, die seine Zähne zusammenklebten.
Harry ließ den Tarnumhang auf Hagrid's Tisch zurück.
Im stockdunkeln Wald würden wir ihn nicht brauchen.
„Komm mit, Fang, wir gehen spazieren.", sagte ich und tätschelte Fang.
Glücklich tollte Fang hinter uns her und jagte hinüber zum Waldrand, wo er an einer hohen Platane das Bein hob.
Harry und ich zückten unsere Zauberstäbe und murmelten „Lumos!".
An der Spitze erschien ein kleines Licht, gerade hell genug, um den Weg nach Spinnen abzusuchen.
„Klug von euch.", sagte Ron. „Ich würde meinen ja auch anzünden, aber du weißt ja - er würde wahrscheinlich explodieren oder so etwas..."
Harry tippte Ron auf die Schulter und deutete ins Gras.
Zwei einzelne Spinnen entflohen dem Licht der Zauberstäbe in den Schatten der Bäume.
„Na schön.", seufzte Ron, als ob er sich mit dem schlimmsten abgefunden hätte. „Ich bin bereit. Gehen wir."
Mit dem wild herumtollenden und Baumwurzeln und Blätter beschnüffelnden Fang betraten wir den Wald.
Im Schein von Harry's und meinem Zauberstabs gingen wir den Spinnen nach, die immer wieder an Pfad entlang auftauchten.
Gut eine Viertelstunde lang folgten wir ihnen schweigend, wobei wir angespannt auf andere Geräusche als das Knacken von Zweigen und das Rascheln von Blättern lauschten.
Dann jedoch - der Wald war so dicht geworden, dass wir die Sterne am Himmel nicht mehr sehen konnten und nur noch Harry's Zauberstab und mein Zauberstab in das Meer der Dunkelheit strahlte - sahen wir, dass die Spinnen, die uns geführt hatten, den Pfad verließen.
Harry und ich hielten an und versuchten zu erspähen, wo die Spinnen hinliefen, doch alles außerhalb des kleinen Lichtkegels war rabenschwarz.
So tief waren Harry und ich noch nie in den Wald vorgedrungen.
Lebhaft erinnerte ich mich nach an Hagrid's Mahnung beim letzten Mal, nie den Pfad zu verlassen.
Doch Hagrid war jetzt meilenweit entfernt, vermutlich saß er in einer Zelle in Askaban, leistet vielleicht meinem Vater Gesellschaft
- was ich bezweifle - und immerhin hatte er selbst gesagt, wir sollten den Spinnen folgen.
Etwas Nasses berührte meine Hand, ich zuckte zurück und trat auf Ron's Fuß.
Doch es war nur Fang's Nase.
Das hatte mich erschreckt!

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