Kapitel 1 - Ein Traum wird wahr

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Nach einer langen Wanderung durch viele verschiedene Wälder, über Berge, weite Wiesen und manchmal notgedrungen auch durch Menschensiedlungen erreichte ich endlich mein Ziel. Meine Muskeln schmerzten und meine Pfoten fühlten sich an, als wären sie tausend Kilometer durch dickflüssiges Wasser gesprintet. Aber es hatte sich gelohnt: Eine neue Hoffnung durchströmte mich, als ich die anscheinend achtlos übereinander gewürfelten Granitblöcke erblickte, zwischen denen meine scharfen Augen hin und wieder unauffällige Fenster in allen möglichen Formen wahrnahmen. Die Clearwater High. Endlich war ich da.

Erschöpft ließ ich mich kurz auf dem noch vom Nachttau nassen Gras nieder und ließ das völlig neue Gefühl und die ganzen Eindrücke, die mir nahezu vor Freude ins Gesicht sprangen, erst einmal sacken. Ich atmete tief durch und legte meinen Kopf auf meinen übereinander geschlagenen Pfoten ab. Bis eben war ich noch ein paar Kilometer durch ein Naturschutzgebiet getrabt und dann durch das extra weit ausgedehnte Privat-Gelände des Internats. Logischerweise fühlte ich mich also ziemlich kaputt.

Irgendwo hinter mir hörte ich einen Bach plätschern und die Blätter raschelten leise im Wind. Alles vertraute und doch völlig neue Geräusche. Was mich wohl erwarten würde, wenn ich das Gebäude betrat, in das ich so viel Zeit, Anstrengung und Hoffnung gesetzt hatte? Würde ich vielleicht sogar gar nicht aufgenommen werden? Mit einem Ruck hob ich den Kopf und legte meine Pfoten ordentlich nebeneinander. Beunruhigt zuckten meine Ohren vor und zurück und mein kräftiger Schwanz peitschte hin und her. Natürlich hatte ich mir zuvor schon Gedanken darüber gemacht, wie das hier alles wohl ablaufen könnte, und was ich machen würde, wenn ich hier nicht bleiben durfte – nämlich es noch mal versuchen und sonst eine andere Schule suchen, oder einfach weiter in der Natur herumstreifen. Nichtsdestotrotz war es ein viel realistischer und beunruhigender Gedanke, jetzt, wo ich endlich an meinem Ziel angekommen war.

Ich ließ alle Vorsicht fallen, legte meinen Kopf erneut auf den Pfoten ab und schloss für einen Moment die Augen.
Gleich würde ich da hineingehen. Gleich.
Gleich. Gleich. Gleich. Gleich. Die Wörter und mein Herzschlag passten sich einander an. Im gleichen Rhythmus schlug mein Herz, während mein Kopf ,Gleich' flüsterte.
Gleich. Gleich. Gleich.

Mein Herzschlag wurde schneller. Die Worte gewannen an Kraft und die Entfernung zwischen ihnen wurde immer kürzer. Es trommelte nur so in meiner Brust. Ich presste die Augen zusammen und legte die Ohren an.
Gleich, gleich, gleich, gleich... JETZT!
Ich sprang auf, mein Herz raste, meine Gedanken wirbelten so wild durcheinander, dass ich leichte Kopfschmerzen bekam. Ich taumelte. Aber schnell hatte ich mich wieder gefasst. Das war wohl etwas zu abrupt für meinen mitgenommenen Kreislauf gewesen.

Zielstrebig wanderte ich über die grasbewachsen Granitblöcke zum Haupteingang. Den Kopf und den Schwanz hoch erhoben, um mir selber Mut zu machen. Ich sprang von einem Block zum Nächsten. Voller Stolz spürte ich, wie meine stahlharten Muskeln sich zusammenzogen und wieder locker ließen. Wie sie in geübter Perfektion zusammenarbeiteten. Es würde schon alles gut werden. Es konnte nur alles gut werden! Es stand einfach zu viel auf dem Spiel, als das es nicht gut werden konnte.

Mit einem letzten gewaltigen Sprung landete ich sicher auf allen vier Pfoten vor dem Haupteingang. Die unverputzte Ziegelmauer und das viele glänzend saubere Glas ließen das Gebäude modern erscheinen. Der Name der Schule – Clearwater High – in edlen, großen Metallbuchstaben rundeten das Bild perfekt ab. Ahnungslose wären nie darauf gekommen, dass sich hinter dieser makellosen Erscheinung ein riesengroßes Geheimnis verbarg. Vor Aufregung zitterten meine Tasthaare. Ich dehnte und schüttelte mich, um meine angespannten Muskeln zu lockern. Keinen einzigen Gedanken verschwendete ich an die Dinge, die schiefgehen konnten. Ein erwartungsvolles Prickeln durchlief mich von der Schnauze bis zum Schwanz. Ich hatte es geschafft und würde da jetzt reingehen! Dann schritt ich hoch erhobenen Hauptes in das Gebäude meiner Träume.

Woodwalkers - Lyanna RiderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt