Kapitel 9 - Wofür?

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So ein Gefühl hatte ich noch nie zuvor erlebt.
Es war, wie als würde man sich mit einem lauten vibrierenden Knall aus seinem verklebten Kokon lösen, der einen bisher standhaft festgehalten hatte. Als würde man endlich durch die Wasseroberfläche brechen und den ersten frischen Atemzug seit langem nehmen. Als wäre man neugeboren worden, aber gleichzeitig auch sein altes Ich mitgenommen haben.

Ich wachte aus einem gefühlt unendlich langen Schlaf auf und schnappte nach Luft – und da durchzuckte mich der erste Schmerz. Vor Schreck wollte ich meine Augen aufreißen und nachsehen, was da beim großen Berggipfel so weh tat! Und schon traf mich der nächste Schock: Ich konnte sie nicht öffnen! So sehr ich es in meinem erschöpften Zustand auch versuchte, meine Wimpern klebten zu sehr aneinander oder meine Augenlider wollten sich partout nicht öffnen. Eulendreck! Warum funktionierte das nicht?

Da spürte ich plötzlich die Anwesenheit eines anderen Woodwalkers, und erstarrte.
Während ich versuchte, meine Gefühle vor dem anderen abzuschotten, bemühte ich mich verzweifelt, nicht in Panik auszubrechen. Aber zum Berggipfel! Wie sollte das bitte gehen, wenn ich doch wusste, dass ich gerade vollkommen wehrlos war? Ich konnte meine Augen nicht öffnen, und wenn ich mich bewegte, schmerzte da irgendetwas an meiner Flanke höllisch. Er konnte mich jetzt gleich, in diesem Augenblick, töten – dem war ich mir sehr bewusst.

‚Okay, Lya', sprach ich mir selber gut zu, ‚Ruhe bewahren. Eines nach dem anderen. Erstens: Woodwalker identifizieren!' Ich atmete einmal unauffällig tief durch und nahm so seine zweite Gestalt und seine momentane Gefühlslage auf. Meine Schnauze zuckte und brauchte einen Moment länger als sonst. Dann aber hatte ich die verschiedenen Gerüche endlich voneinander gefiltert. Schon roch ich wieder diesen haarigen, eklig verfilzten Gestank – Wolf! Augenblicklich spannte ich mich vollkommen an. Meine Muskeln hart wie Stahl und meine Nerven bis zum Zerreißen gespannt. Es war soweit.

Sie hatten mich gefunden.

Wieder durchzuckte mich eine Erinnerung.
Wieder sah ich die Flammen.
Wie sie todbringend das Haus verschlungen.
Hörte ich das verzweifelte Schreien der Frau.
Wieder durchfluteten mich Schuldgefühle, stechend wie ein direkter Stich ins Herz.

Sie hatte gewusst, dass ich da gewesen war, aber ich hatte sie nicht retten können.

Wimmernd warf ich mich herum.

Bei jedem Schmerzgefühl dachte ich an sie. Wie sie bei lebendigem Leibe verbrannt worden ist.

Tränen der Schuld und Verzweiflung rannen meinem Menschen-ich hinunter. Auch meiner zweiten Gestalt? Vermutlich. Zu groß war mein Schuldgefühl. Konnten Berglöwen überhaupt weinen? Keine Ahnung.

Wieder hörte ich die vertraute Stimme, die meinen Namen schrie. Und wieder konnte ich sie nicht zuordnen.

Plötzlich sah ich vor mir das dunkelgraue, fast schwarze Gesicht des Timberwolfes, des Alphas.

Das Gesicht von demjenigen, der mich tot sehen wollte.
Das Gesicht von demjenigen, der mir das befahl, was ich heute am meisten bereute.

Nichts getan zu haben, als die Frau starb.

Ich versuchte noch, die Welle aus Schuldgefühlen, Verzweiflung und Panikattacken zurück zu drängen, aber es war schon zu spät.

Ich warf mich auf dem weichen Untergrund herum, als die Wände näher rückten.
Sie bekamen Krallen und Fänge.
Messerscharfe Waffen, die nach mir griffen.
Die mir die Haut aufschlitzen wollten.

Ich schrie.
Schrie vor Angst und Verzweiflung.

Kein einziges Fünkchen Hoffnung, dass alles wieder normal werden könnte, war in mir verblieben.

Es gab nur noch mich, meine Todesangst, meine Schuldgefühle und die Stimmen, die mir immer wieder ein Wort ins Ohr flüsterten.

„Mörderin!"

Ich warf mich herum.
Versuchte verzweifelt, ihnen auszuweichen.

Ich wusste, würde ich ihnen nachgeben, würde ich sterben. Also kämpfte ich. Ich kämpfte, weil mich schierer Überlebenstrieb über Wasser hielt.

Doch die Wände kamen immer näher und irgendwann waren sie so nah, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Völlig verängstigt lag ich eingequetscht zwischen ihnen, während die Krallen und Fänge mir einen Fleischfetzen nach dem Anderen rausrissen.
Aber ich konnte mich nicht bewegen. Konnte nur spüren und leiden.
Ich schrie vor Qualen. Vor Schmerz. Vor Angst. Vor Verzweiflung.

Ich wusste, es war vorbei.

Meine Flucht, mein Verrat an meiner Familie, meine Lügen hier ... alles war umsonst gewesen.

Ich würde hier und jetzt sterben.

Ermordet durch die messerscharfen Krallen und vergifteten Fänge, die – wie ich plötzlich erkannte – dem Wolf gehörten. Ihm.

Ich hörte noch seine Worte, bevor er mich mit einem seiner Fänge schmerzhaft vergiftete und seine Krallen mir quälend langsam Narben zufügten und mich verstümmelten.

„Schlaf gut, kleine Wölfin. Deine Eltern werden dir folgen. Aber zuerst lehre ich sie über deinen Mord."

Ich wollte schreien.
Wollte ihm zubrüllen, er solle meine Familie in Ruhe lassen.
Doch ich war zu erschöpft.
Nur noch ein blutiges Fleischbündel meiner selbst, während sich in meinen Gedanken meine Eltern enttäuscht und verraten von mir abwandten.

Ihre wütenden Gesichter waren das Letzte was ich sah, bevor ich mich der erlösenden Schwärze hingab.

Und das Schlimmste war, dass ihre Wut mir galt. Dass ich sie enttäuscht hatte. Ich war nicht so, wie sie es wollten.

Und nun wollten sie mich nicht mehr.
Stießen mich fort.
Ich hatte nichts mehr, wofür es sich zu leben lohnte.

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Hello, meine Wandlerfreunde!

Nicht nur ein neuer Teil meines Buches ist veröffentlicht, sondern auch ein weiterer Band von Woodwalkers! 🥳 ‚Die Rückkehr – Das Vermächtnis der Wandler'. Hat es schon jemand gelesen? Ich hab es mir gerade erst gekauft und und bin super spannend auf es 🤩.

Wer ist eigentlich euer Lieblingscharakter aus Woodwalkers?

Und mögt ihr Seawalkers?

Seid ihr eher ein Lüfteschwinger, ein Meerestaucher oder ein Waldläufer? 😁

Woodwalkers - Lyanna RiderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt