Sonnenstrahlen kitzelten meine Ohren und ich wachte auf. Einen kurzen Moment war ich orientierungslos und wusste nicht, wo ich war. Dann fiel es mir wieder ein: Die Clearwater High. Mein Ziel. Mein Glück. Mein Erfolg. Ich hatte es geschafft! Vor Freude machte ich wieder einen kleinen Luftsprung wie gestern bei Lissa Clearwater im Büro. Ich konnte es immer noch nicht ganz fassen. Die lange, kräftezehrende Wanderung war endlich zu Ende!
Neben mir gähnte jemand herzhaft, was mich ein bisschen an ein Knurren erinnerte. Vor Schreck fuhr ich die Krallen aus. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass meine Zimmernachbarin schon da war! Schnell fuhr ich die Krallen wieder ein, damit sie nichts merkte, und setzte mich auf.
Die Ohren erwartungsvoll gespitzt, der Schwanz ordentlich um die Pfoten gerollt. Ich weiß, es war etwas kindisch, aber etwas in mir wollte ihr unbedingt zeigen, dass ich Benehmen und Disziplin besaß.
Also blieb ich in dieser Pose die letzten Sekunden, bis sie sich ebenfalls in ihrem Bett aufrichtete. Neugierig betrachtete ich das Mädchen, mit dem ich höchstwahrscheinlich die nächsten zweieinhalb Jahre ein Zimmer hatte. Eigentlich war sie relativ hübsch mit ihren langen Beinen, den rotbraunen Haaren, die ihr bis zum Kinn reichten, und ihrer schlanken Figur. Einzig allein ihre gedrungene Kopfform und ihre traurig dreinblickenden bernsteinfarbenen Augen rundeten ihr wunderschönes Bild nicht perfekt ab.
Ich sog die Luft durch meine feine Nase ein, weil ich wissen wollte, wer sie in zweiter Gestalt war, ... und verschluckte mich prompt. Wolf! Sie war ein Wolf! Meine Zimmernachbarin war ein Wolf! Oh, verdammter Eulendreck, das konnte doch nicht wahr sein! Als Mensch hätte ich jetzt wahrscheinlich verzweifelt die Hände gen Himmel geworfen. Hatte ich irgendein Schild auf meiner Stirn kleben, wie etwa ‚Konfrontiert mich bitte mit Wölfen, weil ich sie ja so sehr liebe'?
In dem Moment wachte das Mädchen wohl vollends auf und starrte mich an. „Du bist ein Berglöwe?", sagte sie genauso entsetzt, wie ich eben auf ihre zweite Gestalt reagiert hatte.
Ja. Fast hätte ich die Ohren angelegt. Und du ein Wolf.
„Ein mexikanischer Wolf, um genau zu sein", korrigierte sie mich nicht ohne Stolz.
Ich schwieg. Was sollte ich darauf auch antworten? Ich wusste so gut wie gar nichts über mexikanische Wölfe! Und besonders erpicht darauf, mich mit einem zu unterhalten, war ich auch nicht.
Schließlich war meine Zimmernachbarin diejenige, die unserem Schweigen einen Schlussstrich setzte: „Ich merke, du magst Wölfe nicht so gerne." Sie seufzte. „Da gibt es viele, glaub mir." Und ob ich ihr glaubte! Fast hätte ich die Zähne gefletscht, hielt mich jedoch im letzten Moment zurück.
Wenn ich eines von meinem Vater gelernt hatte, dann, dass man nicht alle Probleme feindlich angehen sollte. Feinde waren am Besten mit Freundlichkeit zu besiegen. Ich atmete einmal unauffällig tief durch. Dann meinte ich zögerlich: Ich habe nicht was gegen alle Wölfe. Nur gegen manche. Und das war noch nicht mal gelogen! Ich hatte ja schließlich bisher auch nur ein paar Wölfe kennengelernt. Und es gab Hunderte von ihnen auf der ganzen Welt! Es konnten nicht alle fies und gemein sein. Hoffte ich jedenfalls.
Erleichtert stand das Mädchen auf. Meine Antwort genügte ihr anscheinend. „Wie heißt du?", fragte sie vorsichtig.
Doch diesmal würde ich nicht feindselig reagieren. Lyanna. Aber du kannst mich Lya nennen. Ich hielt erschrocken die Luft an. Nur ganz wenigen erlaubte ich, mich mit meinem Spitznamen an zu reden. Er war etwas intimes, geheimes. Nur meine Mutter hatte mich so genannt. Und ich hatte ihn gerade einer Wölfin anvertraut! Was war los mit mir?
„Okay", lächelte sie. „Ich heiße Ylva." Dann stemmte sie tatkräftig die Hände in die Seiten. „Und? Wollen wir frühstücken gehen?"
⋆〖 𒊹︎ 〗⋆
DU LIEST GERADE
Woodwalkers - Lyanna Rider
Fanfiction'Ich senkte den Kopf und betrachtete meine ausgefahrenen Krallen, die sich in das weiche Gras bohrten. Ich spürte den Widerstand, den der Granit darunter mir bot. Leider konnte ich einen Verrat ihrerseits nicht ausschließen. Auf der Flucht war Naiv...