Kapitel 4 - Erstes Geheimnis

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Stunden später, nach Unterrichtsschluss, kam Ylva in unser Zimmer. Sie fand mich zusammengekauert in der hintersten Ecke unter meinem Bett.

„Lya?", fragte sie besorgt. „Was machst du da? Ist alles gut?"

Ich hob den Kopf. Meine Augen sagten ihrer Erwiderung nach zu urteilen alles.

„Oh, nein. Was ist passiert, Lya?"

Vorsichtig, um sich nicht den Kopf zu stoßen, kroch sie zu mir unters Bett.

„Lya? Sag doch was! Was ist passiert?"

Ich fand es rührend, wie sie sich um mich sorgte. Doch ich konnte es ihr nicht erklären. Jetzt noch nicht. Das sah dann wohl auch Ylva ein: Sie sagte nichts mehr, sondern kraulte mich einfach nur hinter den Ohren. Ich spürte, wie beunruhigt sie war. Welche Sorgen sie sich um mich machte. Nie hätte ich gedacht, dass ein Wolf so nett sein konnte. Ich wusste, dass mein Dankbarkeitsgefühl sie erreicht hatte, als sie lächelte. Zufrieden legte ich den Kopf auf dem Boden ab und streckte mich aus. Meine neue Freundin kraulte mich so lange, bis ich eingeschlafen war, und es nicht mehr wahrnehmen konnte.

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Mitten in der Nacht schrak ich hoch. Meine Flanken bebten, mein Schwanz peitschte unruhig hin und her und mein ganzer Körper zitterte.

Ich hatte es wieder gesehen.

Ihr Gesicht.

Ich sah ihre Tränen des Schmerzes ihre verrußten Wangen runterlaufen. Sah, wie sie sofort wieder trockneten. Schutzlos der gefährlichen Hitze des Feuers ausgesetzt.

Mein mächtiger Berglöwen-Körper versteifte sich. Ich miaute kläglich.
Aus dem Bett neben mir hörte ich ein Geräusch. Einen Augenblick später kamen Ylvas lange Beine in mein Blickfeld. Wölfe hatten wohl auch einen leichten Schlaf. Mit einem Satz war sie an meinem Bett und lugte unter es. Ihre bernsteinfarbenen Augen blickten sehr besorgt. „Was ist los?" Stille. Sie seufzte. „Lya, ich kann dir nicht helf...", fing sie an.

Doch ich hatte mich von einem Moment auf den Anderen entschieden. Ja, sie war ein Wolf. Und ja, ich hatte was gegen ihre Art. Aber was konnte sie dafür? Ich hatte mir ja auch nicht aussuchen dürfen, was für eine zweite Gestalt ich haben würde. Warum sollte ich ihr nicht vertrauen? Ihr, dem Mädchen, dass mich gestern beruhigt und in den Schlaf gekrault hatte? Dem Mädchen, dass mich gleich bei sich ‚aufgenommen' hatte? Dem Mädchen, das jetzt gerade mitten in der Nacht aufgestanden war, weil sie sich um mich sorgte.

Also gestand ich es ihr: Ich habe Alpträume. Eigentlich nichts furchtbar schlimmes, aber meine waren anders. Meine Augen blickten zu Boden. Ich konnte fühlen, wie Ylva wie erstarrt dasaß und Erleichterung, Freude und Hoffnung in ihr hoch brodelten. Sie spürte wohl, dass ich mich ihr gerade anvertraut hatte, obwohl ich das nicht bei jedem tat. Und das mochte ich ebenfalls an ihr. Andere Mädchen wären jetzt vielleicht wieder zurück in ihren Schönheitsschlaf gegangen, oder gar nicht erst aufgestanden, um zu gucken, was mit mir los war. Doch Ylva war nicht so. Sie war anders, wie ich. Ich hörte quasi, wie das Freundschaftsband zwischen uns gerade fertiggestellt worden war. Unwillkürlich musste ich schnurren und sie lächeln.
Lange saßen und lagen wir einfach nur da und blickten uns an.

Den nächsten Schritt machte ich: Mein ganzer Name ist Lyanna Rider. Ich sah, wie Ylva's Augen vor Erstaunen größer wurden. Wie sie sich unwillkürlich gerade hinsetzte und Haltung annahm. So eine Reaktion hatte ich schon erwartet. Mein Menschen-ich seufzte tief in mir drinnen.

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„Rider?", hakte Ylva entgeistert nach. Ich nickte, was als Berglöwe ganz bestimmt ziemlich dämlich aussah.

Woodwalkers - Lyanna RiderWo Geschichten leben. Entdecke jetzt