Am nächsten Morgen wachte ich durch meinen inneren Wecker recht früh auf. Im Wald. Die erste Sinneswahrnehmung, wie ich sie lange Zeit hatte genießen können.
Etwas wehmütig trabte ich zwischen dem noch leicht funkelnden Grün hindurch, sprang zum Spaß gegen ein paar Baumstämme und jagte die bunten Blätter mit meinen Krallen. Es war herrlich, und obwohl ich gerade erst aus diesem Abschnitt meines Lebens in das sichere Schulleben gewechselt war, vermisste ich das Freiheitsgefühl. Die natürliche Umgebung, die im Schulgebäude zwar so gut wie möglich aufgefangen wurde, aber nicht das Gleiche war.
Vor dem Fenster angekommen, das in Ylvas und mein Zimmer führte, gönnte ich mir einen Moment des Durchatmens. Dafür hatte ich mir extra einen Granitblock ausgesucht, der nicht allzu sehr mit Gras bewachsen war, sodass die in ihm gespeicherte Wärme der Sonnenstrahlen mich wärmen konnte.
Mein Blick schweifte über diesen wunderschönen Morgen: Die Blätter der Bäume wehten sachte im lauen Wind, der Nachttau auf den Pflanzen ließ sie magisch glitzern und die Sonne hatte fast ihren Aufstieg über den Wald geschafft. Zufrieden schloss ich die Augen und genoss kurz, aber gebührend die Ruhe hier draußen.
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Als ich an einigen Tischen zu dem von gestern vorbeiging, an dem Safiya, Yon, Florian und Oriana schon Platz genommen hatten, durfte ich ein paar böse Blicke der Schüler genießen. Mein Menschen-ich zog eine Augenbraue hoch. Hatte ich irgendwas verbrochen?
Vollkommen verwirrt, was das sollte, bemerkte ich erst im letzten Moment das hervorschnellende Bein, sodass nur meine tierischen Instinkte mich vor einem Zusammentreffen mit dem Boden wahrten. Halbwegs elegant kam ich auf der anderen Seite wieder auf und konnte gerade noch ein Fauchen unterdrücken, als ich mich blitzschnell umdrehte. Die langen schwarzen Haare in seinen fettigen Bacons und dem Müsli daneben vertieft, saß mein Feind da. Dass er ein Wolf war, musste ich gar nicht erst näher überprüfen – sein Verhalten und sein ekelhafter Geruch sagten alles aus. Was sollte das?, fragte ich seinen Hinterkopf scharf.
Wie von einem unhöflichen Winselgesicht erwartet, bekam ich keine Antwort. Mit erhaben gehaltenem Kopf schritt ich unter den hundert Augen der anderen hindurch, wobei nur mein leicht zuckender Schwanz mein Unbehagen ausdrückte.
Ich erreichte endlich den Tisch mit meinen neuen Klassenkameraden und begab mich auf einen freien Stuhl, der unter meinem Berglöwengewicht bedenklich knarzte. Während Yon und Florian möglichst weit von mir abrückten, beugten sich Safiya und Oriana gleich vor zu mir. „Und?", begann Safiya. „Was hast du mit den Wölfen gemacht?"
Überrascht starrte ich sie an. Was meinst du?, fragte ich leise in ihren und Oriana's Kopf – musste ja nicht jeder im Umkreis von sieben Baumlängen mitbekommen, worüber wir am Frühstückstisch sprachen.
Diesmal war wohl die Elster dran mit Reden. Mit einem bedeutungsvollen Blick über meinen Kopf zu den Wölfen hinweg erklärte sie: „Was Safiya fragen wollte, ist, warum die Wölfe so wütend auf dich sind."
Mein Menschen-Ich seufzte. Vielleicht unsere natürliche Feindschaft?, schlug ich vor.
Kurz schwenkte ich unauffällig ein Ohr nach hinten, doch die Wölfe schwiegen anscheinend gerade. Trotzdem spürte ich die eisige Wut, die sie mir entgegenbrachten, so genau, dass sich mein Fell aufstellen wollte. Es zuckte widerstrebend, als ich es gerade noch daran hindern konnte. Was hatten die nur?
Wir unterhielten uns noch ein bisschen im Allgemeinen über die Wölfe, und ich erfuhr, dass unser Wolfsrudel momentan aus sechs Mitgliedern – oder wie auch immer man das bei Wölfen nannte – bestand.
Einmal aus Rey, dem Alpha, ein durchtrainierter Junge aus der Zweitjahresklasse mit schwarzen, kurzen Haaren, breiten Schultern und bernsteinfarbenen Augen, der in zweiter Gestalt ein dunkelgrauer Timberwolf war. Seine Betas waren Kayana und Sjur. Der kluge Kopf und der Mann für's Grobe sozusagen.
Kayana war – so Oriana – erst vor einem halben Jahr an die Clearwater High gekommen und hatte sich zuvor, wie auch ich, in der Wildnis durchgeschlagen. Eine beeindruckende Leistung in einem halben Jahr vom Neuling zur stellvertretenden Anführerin zu werden. Aber Kayana war nicht nur klug und kämpferisch, sie war auch relativ hübsch. Ihre hellbraune Haare fielen ihr in leichten Naturwellen bis zur Mitte des Rückens und harmonierten in einer sympathischen Weise mit ihren bernsteinfarbene Augen.
Noch dazu war sie sowohl in ihrer ersten Gestalt, als auch in ihrer Zweiten, als Mackenzie-Wolf, größer als Rey.Generell bevorzugte der Alphawolf der Clearwater High wohl größere Betas – Sjur war nämlich riesig. Von Safiya hatte ich erfahren, dass der Junge beinahe täglich damit angab, ein British Columbian Wolf zu sein. Als Mensch war Sjur recht muskulös mit schwarzen, raspelkurzen Haaren und stechend gelben Augen. Ein typischer Schläger also. Jemand, bei dem mir meine Eltern geraten hätten, mich von ihm fernzuhalten. Ich seufzte tonlos. Meine Eltern – ein heikles Thema, über das ich mit niemandem sprechen konnte. Oder eher sprechen wollte.
Wie ich jetzt wusste, war es Chase, ein Polarwolf, gewesen, der mir das Bein gestellt hatte. Was ich eigentlich ziemlich schade fand, weil er mein neuer Mitschüler war. Mit vierzehn Jahren war er der Jüngste aus dem Wolfsrudel und hatte es deswegen ganz bestimmt nicht leicht. Vielleicht wollte er sich damit, dass er mir ein Bein stellte, bei den Anderen einschleimen. Ein bisschen Mitleid mit ihm hatte ich schon. Vor allem deswegen, weil seine unsportliche Aktion vorhin nicht funktioniert hatte.
Außer Ylva gab es noch einen im Rudel: Leano, welcher anscheinend der letze Neue gewesen war, bevor Ylva hinzugekommen war. Trotzdem ging der helle Hudson Bay Wolf in die Zweitjahresklasse. Er hatte einen blonden Kurzhaarschnitt mit dunkelbraunen Augen, und war – wie alle Raubtiere, wenn ich mich selbst auch einmal loben durfte – relativ stark.
Wer der Omega war, wusste ich nicht genau. Allerdings konnte ich mir gut vorstellen, dass es Leano war.Safiya und Oriana versuchten heimlich während ihrer Ausführungen über das Wolfsrudel mich über meine Beziehung zu eben diesem auszupressen. Doch schließlich sahen sie wohl ein, dass ich keine heimliche Affäre mit jemanden von denen hatte, die schlecht verlaufen war, oder gar um Mitternacht mit ihnen gekämpft hatte.
Tatsächlich war meine größte Sorge aber, dass die Wölfe herausgefunden hatten, wie meine Vergangenheit mit ihrer Art aussah ...
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Nun, es gibt wohl nicht nur nette Wölfe, wie Ylva ... Wo ist die überhaupt?
Glaubt ihr, dass Lyas Sorge berechtigt ist? Was wenn die Wölfe aus ihrer Vergangenheit Kontakt zum Wolfsrudel der Clearwater High aufgenommen hat? Ist sie dann überhaupt noch sicher?
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Woodwalkers - Lyanna Rider
Fanfiction'Ich senkte den Kopf und betrachtete meine ausgefahrenen Krallen, die sich in das weiche Gras bohrten. Ich spürte den Widerstand, den der Granit darunter mir bot. Leider konnte ich einen Verrat ihrerseits nicht ausschließen. Auf der Flucht war Naiv...