Neue Wege

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"Yael, du musst sofort aufwachen. Yael Rosenthal, das wird dein Leben verändern, du kannst doch nicht dein ganzes Leben verschlafen!", ruft Ellen aufgeregt. "Was?", flüstere ich verschlafen. "Yael, wie kann man nur so tief schlafen, wie du?", fragt Ellen kopfschüttelnd. "Ob du es glaubst oder nicht, du bist die erste Person, bei der ich schlafen kann. Normalerweise kann ich nicht mal zuhause schlafen und bei dir träume ich nicht einmal etwas schlimmes. Das ist schon komisch.", bemerke ich. Wobei ich es eigentlich gar nicht so komisch finde, denn bei Ellen fühle ich mich wohl, sogar wohler als in meinem Zimmer. Nur Benjo fehlt mir und dann wäre alles perfekt. "Willst du gar nicht wissen, welche unfassbar gute Nachricht dein Leben verändern wird?", fragt meine ehemalige Lehrerin. "Okay.", entgegne ich immer noch verschlafen. "Ich habe einen Job für dich gefunden. Du musst dich nur noch vorstellen.", erklärt Ellen begeistert. Ich schaue sie verwirrt an und meine ehemalige Lehrerin erklärt mir, dass sie den Job über eine befreundete Sozialarbeiterin gefunden hat. "Das ist fantastisch, aber denkst du, dass das etwas für mich ist? Denkst du, dass ich gut genug dafür bin?", gebe ich zu bedenken. "Natürlich, du bist wundervoll und das werden sie merken.", baut sie mich auf und gibt mir einen Kuss auf die Nase. "Ich wünsche dir ganz viel Glück, du schaffst das, glaub an dich.", motiviert mich Ellen. Diese Frau sieht auch echt nur das Positive. Eigentlich finde ich das ja ganz süß, aber in meiner momentanen Situation finde ich es einfach nur nervig. Es kommt mir so vor, als würden ihr Regenbögen aus dem Arsch schießen und ich kann mit einer so positiven Art einfach nicht umgehen. Ich liebe sie, aber manchmal habe ich das Gefühl, dass sie die Realität einfach nicht sehen will. Vielleicht bin ich auch etwas zu pessimistisch, aber so kann man wenigstens nicht enttäuscht werden.

Ich bin zwar nicht sonderlich überzeugt, aber ich versuche es trotzdem. Etwas schlimmeres, als eine weitere Absage, kann mir ja eigentlich nicht passieren. Ein bisschen nervös bin ich schon, aber was habe ich schon zu verlieren? "Wie ich sehe, haben Sie eine Ausbildung im sozialen Bereich, das verschafft Ihnen einen immensen Vorteil, denn die meisten Bewerber haben studiert.", erklärt mir die stellvertretende Schulleiterin. "Aber ist es nicht eigentlich besser, wenn jemand soziale Arbeit oder etwas ähnliches studiert hat?", frage ich verwundert. "Natürlich hat derjenige mehr theoretisches Wissen, allerdings haben Sie auch sehr viel praktische Erfahrungen, wie ich Ihrem Lebenslauf entnehme und darauf kommt es meistens an. Diese ganzen Studenten, die frisch von der Uni kommen, haben nicht besonders viel Erfahrung und sind deshalb noch etwas unbeholfen. Ich wünsche mir jemanden mit viel praktischer Erfahrung, deswegen war ich auch so begeistert von Ihrer Bewerbung.", entgegnet die stellvertretende Schulleiterin und lächelt mich an. Als sie mich fragt, ab wann ich anfangen könnte, falle ich aus allen Wolken. Ich hatte mit allem gerechnet, aber nicht damit. Am Abend erzähle ich Ellen davon. Sie grinst mich vielsagend an. "Was ist?", frage ich verdutzt. "Vielleicht muss ich dir da noch etwas erzählen. Du weißt ja, dass ich an deiner alten Schule nicht besonders glücklich war. Die Schüler waren nicht so besonders toll, ich wurde von ihnen immer gehasst, weil ich ihnen eben etwas beibringen wollte, im Gegensatz zu meinen Kollegen. Die Kollegen waren auch nicht besonders nett, sie haben mich immer dafür verurteilt, dass ich pädagogisch arbeite, mein Unterricht war ihnen nicht gut genug, er war laut deren Meinung zu experimentell und ich hatte nicht die Möglichkeit, die Schüler auf den Weg zu selbstständigen Erwachsenen zu bringen. Deswegen habe ich mich an einer anderen Schule beworben und habe gekündigt. Seit zwei Wochen arbeite ich in der Schule, an der du heute deinen Vertrag unterschrieben hast.", erklärt mir meine ehemalige Lehrerin.

Nach mehr als sechs Monaten Arbeitslosigkeit finde ich es etwas befremdlich, wieder um fünf Uhr morgens aufzustehen und ich finde es erst recht befremdlich, fünf Tage die Woche zu arbeiten. Es ist nicht so, dass ich gerne arbeitslos war, aber man hatte einfach sehr viel Zeit und konnte sich mit sich selbst beschäftigen. Ich war wirklich nicht gerne arbeitslos, an manchen Tagen war es echt die Hölle, aber ich muss zugeben, dass ich mich langsam daran gewöhnt habe und das hat mir Angst gemacht. Jetzt finde ich es aber wirklich komisch, wieder so früh aufzustehen und einem geregelten Tagesablauf nachzugehen. Ich habe nicht vom Staat gelebt, dafür haben meine Eltern zu viel verdient, aber dadurch dass ich bei ihnen wohnen konnte und für mich nicht allzu viel Geld ausgebe, habe ich finanziell zumindest kaum einen Unterschied bemerkt. Natürlich merkt man einen Unterschied, wenn man auf sein Konto schaut, aber so im alltäglichen Leben habe ich nichts gemerkt, dann ich konnte mir immer noch das leisten, was ich mir vorher gegönnt habe und das war nicht besonders viel, ab und zu mal ein größerer Einkauf im Bücherladen oder spontan ein neues Tattoo. Als ich um halb acht in der Schule bin und von der Sozialarbeiterin abgefangen werde, bin ich total nervös. Kann ich überhaupt im sozialen Bereich arbeiten? Bin ich dafür geeignet? Meine Psyche ist nicht die beste und eigentlich wollte ich doch nie mit so kleinen Kindern arbeiten. Zuerst werde ich durch die Schule geführt und in mir steigt ein sehr ungutes Gefühl auf, denn an meine Schulzeit habe ich nicht die besten Erinnerungen. Danach lerne ich die Kinder kennen, der Hälfte von denen würde ich sofort ADHS diagnostizieren, sie sind wirklich sehr lebhaft und teilweise wirklich verhaltensauffällig. Trotz allem sind sie sehr aufgeschlossen, nett und süß. Es ist verdammt komisch, eigentlich mag ich doch gar keine fremden Kinder, die gehen mir eigentlich immer nur auf die Nerven. Hier rede ich natürlich nicht von James, sondern von fremden Kindern in der Bahn. Nach dem ersten Arbeitstag bin ich total fertig, Kinder sind wirklich anstrengend und ich habe den größten Respekt vor jedem Lehrer, jeder Erzieherin und jedem, der mit Kindern arbeitet.

"Heute waren die Kids so wahnsinnig anstrengend. Vielleicht hatten sie alle Wodka in ihrem Kakao, jedenfalls waren sie total aufgedreht. War deine Klasse auch so anstrengend?", frage ich müde. "Du arme, das ist normal. An manchen Tagen kannst du einfach nicht mehr, weil sie alle so aufgedreht sind. Meine Klasse war heute eigentlich recht gut drauf und hat gut mitgemacht. Das liegt aber wahrscheinlich daran, dass du in einer ersten Klasse bist und ich habe die vierte. Da sind sie zwar teilweise auch noch echt heftig drauf, aber die erste ist eigentlich die schlimmste. Sie sind noch so klein und wissen gar nicht, wie man sich über längere Zeit konzentriert.", antwortet Ellen, die mir in der Zwischenzeit einen Kakao mit Marshmallows gemacht hat. "Heute war es wirklich schlimm. Jedes Kind hat ein anderes Problem, sie haben sich gar nicht vertragen und ich bin wieder nicht zum Essen gekommen. In meiner Pause musste ich Streit schlichten, weil ein Kind aus meiner Klasse ein Kind aus der Parallelklasse erwürgen wollte. Was ist bitteschön mit den Kindern passiert, ich war nicht so in der Schule, als ich das erste mal jemanden umbringen wollte, war ich wenigstens schon neun Jahre alt und diese Person war meine Musiklehrerin, die mich gemobbt hat. Ich weiß zwar, dass das auch nicht normal ist, aber heutzutage ist es irgendwie noch schlimmer geworden.", beschwere ich mich. "Das liegt an den sozialen Medien und daran, dass sich niemand mehr mit den Kindern beschäftigt. Sie werden nur noch vor dem Fernseher geparkt und dort schauen sie irgendwelche Filme, die nicht für ihr Alter geeignet sind, das schauen sie sich dann ab und wir haben das perfekte Kind, das auf ein anderes Kind losgeht, weil es das im Fernsehen gesehen hat.", erklärt mir Ellen. An diesem Abend diskutieren wir noch eine Weile über die richtigen Erziehungsmethoden, bis ich zu müde bin und einschlafe.

Momentan scheint wirklich alles gut zu laufen, meine Psyche ist auch nicht mehr so kaputt wie früher. Dass ich durch die praktische Prüfung gefallen bin, macht mir gar nicht so viel aus. Natürlich ist es ärgerlich und, aber früher wäre für mich eine Welt zusammengebrochen. Beim zweiten Versuch klappt es, obwohl der Prüfer ein ziemlicher Vollidiot ist. "Herzlichen Glückwunsch, du hast es geschafft! Jetzt steht dir die Welt offen. Das ist ein weiterer Schritt für ein selbstständiges Leben, ich bin so verdammt stolz auf dich!", ruft Ellen begeistert. Ich habe ihr gerade davon erzählt, nachdem ich mit Kate bei KFC war, um meine bestandene Prüfung zu feiern. Ich fühle mich wirklich fantastisch, jetzt habe ich endlich das geschafft, wovor ich die ganzen Jahre Angst hatte. Ich hasse Prüfungen, ich hasse Prüfungen so sehr, ich habe regelrecht Panik davor, genauso wie vor menschlichen Kontakten. Meine ehemalige Lehrerin küsst mich. "Ich liebe dich.", flüstert sie und lächelt mich an. Plötzlich stupst mich jemand an, zuerst denke ich, dass es mein Hund Benjo ist, aber zu meinem großen Entsetzen muss ich feststellen, dass es James ist. "Hallo James, ist alles okay bei dir?", frage ich nervös. "Ja, kann ich vielleicht einen Kakao haben?", fragt der kleine, süße Junge. Ellen macht ihm einen Kakao und ich werfe ein paar Marshmallows rein. Dabei schweigen wir uns an, bis James das Schweigen bricht. "Ihr habt euch geküsst. Liebt ihr euch?", fragt er neugierig. "James, was du gerade gesehen hast, ist ganz normal. Yael und ich lieben uns. Das ist ein bisschen schwierig, wir wollten es dir noch nicht erzählen.", erklärt Ellen. "Aber warum? Ihr liebt euch doch. Daran ist doch nichts falsch. Ich mag dich, Yael.", entgegnet James. Dann geht er wieder spielen und lässt uns ratlos zurück. "Geht dir das alles zu schnell?", fragt Ellen nachdenklich. "Ich war schon vor Jahren bereit, aber du warst es nicht.", erwidere ich. "Möchtest du dann vielleicht mit mir zusammen sein?", fragt meine ehemalige Lehrerin und ich schließe sie glücklich in die Arme. "Ich habe schon gedacht, du fragst mich das nie.", flüstere ich und küsse sie.

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