Der Abschluss

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"Kannst du dir das vorstellen? Wir haben unseren Abschluss!", rufe ich meiner besten Freundin zu. "Unfassbar, eine Ära geht zu Ende und du hast sogar dein Fachabi geschafft.", entgegnet Kate begeistert. Dass ich das Fachabi schaffe, hätte ich eigentlich nicht erwartet. In Englisch und Deutsch hatte ich immer die besten Noten, aber Mathe war schon immer mein größter Feind, mein einziges Problem, abgesehen von Physik. "Hier, wir müssen nochmal anstoßen!", ruft eine Klassenkameradin und überreicht uns jeweils ein Glas mit Sekt. Da stehen wir also vor der Berufsschule und feiern unseren Abschluss. Ein bisschen traurig bin ich schon, denn die zwei Jahre kamen mir viel kürzer vor. Wie oft habe ich mich mit nervigen Lehrern angelegt und wie oft konnte ich im Unterricht durch Wissen und Erfahrung glänzen. Dass ich nach dreizehn Jahren Schule jetzt so einfach nach draußen spazieren kann und mein Leben beginnt, überfordert mich doch schon etwas, denn seit ich zur Schule gegangen bin, habe ich mich auf diesen Moment gefreut. Schule war eben noch nie mein Ding. Die Grundschule war wenigstens noch halbwegs in Ordnung, die fünfte Klasse vielleicht auch noch, aber danach wurde es der absolute Horror. Nach dem jahrelangen Mobbing von Lehrern und Schülern bin ich froh, dass ich diese blöden Rotzkinder und die angeblichen Pädagogen nie wieder sehen muss. Wobei ich sagen muss, dass die Lehrer an der Berufsschule ganz anders sind. Ein paar wirken so, als würden sie geradewegs aus der Hölle kommen, aber es gibt tatsächlich auch Lehrer, die einem mit Respekt begegnen. Das habe ich vorher leider noch nie wirklich erlebt.

Die mündliche Prüfung war für mich tatsächlich angenehmer, als ich gedacht hätte. Ich leide unter massiver Prüfungsangst, schriftliche Prüfungen sind für mich schon der Horror, aber mündliche Prüfungen sind noch viel, viel schlimmer. Deswegen habe ich mich sehr gut auf diesen Moment vorbereitet und eigentlich bin ich mit einem guten Gefühl zur Schule gegangen, denn Kate und ich hätten unser Projekt gemeinsam präsentiert. Da unsere Schule allerdings sehr unorganisiert ist, kam es fünf Minuten vor unserer Prüfung noch zu einer Änderung. Dazu muss man sagen, dass unsere Gruppe als erstes dran war. Aufgrund der Corona-Regelungen sollte jeder seinen Teil des Projektes alleine präsentieren. Darauf war ich nicht vorbereitet und ich hätte auch fast eine Panikattacke bekommen, aber ich habe mir die Frage gestellt, ob ich das nicht auch alleine schaffe, immerhin bin ich schlau und in gewissen Situationen bin ich sogar recht extrovertiert. Also bin ich locker mit meiner Präsentation, meinem Plakat und meinen Notizzetteln in den Raum gelaufen, habe die Prüfer begrüßt und gewartet, bis ich anfangen kann. "Sind Sie nervös?", hat mich einer der Prüfer gefragt. "Natürlich bin ich nervös, aber ich habe nicht zwei Jahre meines Lebens darauf hingearbeitet, um in einem solchen Moment zu versagen.", habe ich erwidert. Zwei der Prüfer haben gelacht, aber meine Hasslehrerin, die auch zu den Prüfern gehört, hat mich einfach nur mit einer hochgezogenen Augenbraue angestarrt. Dann durfte ich anfangen, ich war tatsächlich etwas unsicher, aber mit der Zeit wurde ich immer selbstsicherer und habe meine Notizen auch kaum gebraucht. Meine Hasslehrerin habe ich in dieser Situation vollkommen ausgeblendet und nur die anderen beiden Prüfer angeschaut. Auch die Fragen, die mir zu dem Projekt gestellt wurden, konnte ich beantworten, obwohl sie auch die Teile von Kate betrafen. "Danke für Ihre Präsentation. Sie können im Warteraum Platz nehmen.", erklärt die Lehrerin. Ungefähr fünfzehn Minuten später platzt Kate in den Warteraum. "Was für Vollidioten haben uns da bitteschön geprüft? Stell dir vor, die haben mir Fragen zu deinen Teilen des Projektes gestellt!", regt sich meine beste Freundin auf. "Das war bei mir auch so. Konntest du alle Fragen beantworten?", frage ich und versuche sie zu beruhigen. Aber eigentlich hätte ich wissen müssen, dass sie sich nur noch mehr aufregt. "Nein, konnte ich nicht und das fuckt mich sowas von ab.", antwortet Kate mit knallrotem Kopf.

Später erfahren wir, dass ich mit einer eins bestanden habe und Kate hat eine zwei. Trotzdem regt sich meine beste Freundin auf, was ich absolut nicht verstehen kann, denn ich wäre froh, eine zwei zu haben, wenn ich genauso gut hätte durchfallen können. Aber Kate ist nun mal eine Person, die sich über alles aufregt, auch wenn es nichts zum Aufregen gibt. Bei den anderen hat die Prüfung sichtliche Spuren hinterlassen. Einige weinen, da sie durchgefallen sind und ein paar meiner Klassenkameraden sind gar nicht erst zur Prüfung erschienen, was bedeutet, dass sie durchgefallen sind und die ganzen zwei Jahre umsonst waren. Wenn ich ehrlich bin, fand ich die Prüfung gar nicht so schwer. Die schriftlichen Prüfungen sind da ausnahmsweise mein größeres Problem. In Englisch bin ich zwar nach einer halben Stunde schon fertig, obwohl wir ganze drei Stunden haben, aber in Deutsch habe ich meine Probleme. Eigentlich wollte ich einen Text analysieren, aber dieser Text war so kompliziert und langweilig, dass ich mich für die Lektüre entschieden habe, obwohl ich das Buch absolut schrecklich fand. Die erste halbe Stunde habe ich nur damit verbracht, mich zu entscheiden, welches Thema das kleinere Übel ist. Zwischendurch hatte ich einen kurzen Blackout, aber dann habe ich mich entschieden und die restlichen dreieinhalb Stunden durchgeschrieben. Ein paar Tage später sitze ich vor meinem absoluten Endgegner, Mathe. Verwirrt und ahnungslos starre ich auf die Aufgaben, die mir nichts sagen, ich habe absolut keine Ahnung, wie ich die Aufgaben lösen soll, was von mir verlangt wird und wie ich vorgehen soll. Die Situation überfordert mich so sehr, dass ich unauffällig anfange zu weinen. Meine Lehrerin erlaubt mir, nach draußen zu gehen und in diesem Moment habe ich schon mit der Prüfung abgeschlossen. Weinend sitze ich auf dem Gang und plötzlich läuft mein Informatiklehrer an mir vorbei, der im Übrigen immer noch nicht meinen Namen kennt. Niemals hätte ich gedacht, dass dieser schräge Vogel mich trösten würde oder überhaupt in der Lage dazu ist, denn er ist wirklich ein sehr seltsamer Typ. Er redet mir gut zu und macht mir Mut, dass ich dann wieder rein gehe und wenigstens ein paar Dinge auf das Papier schreibe. Im Nachhinein stellt sich heraus, dass ich kompletten Bullshit dorthin geschrieben habe und null Punkte habe. Aber wenigstens habe ich das Gefühl, mein Bestes gegeben zu haben.

You're still my person | LGBTQWo Geschichten leben. Entdecke jetzt