Lehrjahre sind keine Herrenjahre

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"Hey, du bist also unsere neue Auszubildende, Yael, oder?", fragt mich eine Frau, die schätzungsweise zehn Jahre älter ist, als ich. "Das stimmt.", bestätige ich. "Ich bin Nina und ich bin deine Anleitung für die nächsten drei Jahre. Ich würde dir zuerst unsere Gruppe zeigen, dann führe ich dich durch das restliche Haus und dann lernst du unseren Chef und die anderen Kollegen bei der Übergabe kennen.", erklärt Nina. "Das ist unsere Gruppe, hier sind die älteren Kids untergebracht, sie sind zwischen sechzehn und achtzehn Jahre alt. Eigentlich war ich dagegen, dass du hier eingesetzt wirst, da der Altersunterschied zwischen den Kids und dir nicht allzu groß ist. Mir wäre es lieber gewesen, wenn du bei den ganz kleinen gelandet wärst.", fährt meine Anleiterin fort. "Wie alt sind denn die jüngsten Kids?", frage ich interessiert. "Das ist ganz unterschiedlich, aber bei uns ist das jüngste Kind sechs Jahre alt.", erklärt Nina. Ich bin allerdings heilfroh, dass ich nicht bei den ganz kleinen gelandet bin. Ich möchte unbedingt mit Jugendlichen arbeiten, da ich mit kleinen Kindern nicht besonders gut klarkomme. Außerdem hoffe ich, dass Nina nicht ganz so unsympathisch ist, wie sie auf den ersten Blick wirkt. Von den anderen Kollegen werde ich sehr viel herzlicher aufgenommen, aber ein Kollege ist besonders nett. Er erinnert mich ein bisschen an jemanden, den ich vor langer Zeit verloren habe. Auch die Kids auf meiner Gruppe sind besonders nett. Sie fragen mich über mein gesamtes Leben aus. "Sei vorsichtig, verrate ihnen nicht zu viel, sonst stehen sie irgendwann vor deiner Tür und stalken dich. Du musst von Anfang an Grenzen setzen.", warnt mich Nina.

Die folgenden Tage sind sehr aufschlussreich und nach ein paar Tagen nehme ich sogar aktiv an der Übergabe teil. Nina scheint davon zwar nicht allzu begeistert zu sein, denn sie unterbricht und verbessert mich oft. Aber meine Kollegen Mark und Valentin setzen sich für mich ein. "Also ich möchte gerne hören, was Yael zu sagen hat.", unterbricht Valentin meine Anleiterin. "Nina, niemand ist von Anfang an perfekt, denk doch mal an deine Ausbildung. Du musstest doch auch viel lernen, oder nicht?", fragt Mark. Nina wirft ihm einen bitterbösen Blick zu. "Mach dich nicht fertig, Nina mag nur die kleinen, süßen und hilflosen Azubis, die ihr pausenlos an den Lippen hängen. Laut Nina darfst du keine eigene Meinung haben und musst alles tun, was sie sagt. Aber du bist ja hier, um etwas zu lernen und nicht, um der Sklave einer Person zu sein, die auch nicht alles perfekt macht. Niemand hier ist perfekt, wir haben alle einen gewaltigen Schaden, aber im Endeffekt verstehen sich fast alle.", erklärt mir Mark, als mich Nina in seine Gruppe geschickt hat, um etwas zu holen. "Nina ist mit Sicherheit kein schlechter Mensch, ich kenne sie auch noch nicht so lange, aber ich fühle mich schon ein bisschen bevormundet. Ich erwarte nicht, dass sie mich als gleichwertige Kollegin behandelt, denn dafür fehlt mir eindeutig die Praxiserfahrung, aber ich habe bereits in verschiedenen Einrichtungen gearbeitet und ich habe auch Erfahrungen gesammelt. So wie ich Nina kennengelernt habe, denkt sie wohl, dass ich nichts kann, einfach nur weil ich jünger bin und weil ich gerade erst die Ausbildung angefangen habe. Dabei habe ich schon eine Ausbildung im sozialen Bereich gemacht und ich muss sagen, dass mich diese Ausbildung sehr gut auf den Arbeitsalltag vorbereitet hat. Vieles, was ich in der Schule gelernt habe, kann ich hier umsetzen und ich möchte noch sehr viel mehr lernen.", entgegne ich. "Meiner Meinung nach ist Nina ein sehr schwieriger Mensch, aber im Großen und Ganzen kommst du mit ihr klar und das ist sehr gut. Ich würde nicht mit ihr klar kommen und ich bin heilfroh, dass ich auf einer anderen Gruppe arbeite. Vielleicht hat sie es dir schon erzählt, aber ich bin so eine Art Quereinsteiger und habe keine Ausbildung im sozialen Bereich gemacht. Daher denkt sie auch immer, dass sie sich über mich stellen kann, obwohl ich hier länger arbeite, als sie. Ich will dich auf keinen Fall beeinflussen, aber bei Nina solltest du tatsächlich etwas vorsichtig sein. Wenn du etwas für die Schule schreiben musst, zeig ihr das vorher, sonst rennt sie direkt zu unserem Chef und macht dich schlecht. Dass sie sich deine Aufgaben durchlesen will, ist im Endeffekt auch gar nicht schlimm, aber wenn du es eben nicht tust, regt sie sich tierisch auf.", klärt er mich weiter auf. Dann bietet er mir an, dass ich immer zu ihm kommen kann, wenn ich Probleme habe.

Nach Feierabend schaue ich auf mein Handy und bin ganz überrascht, dass ich zwei neue Benachrichtigungen habe, die nicht von Kate sind. Kate gehört zu den wenigen Menschen, die mir tagsüber schreiben. Ich öffne eine gewisse Datingapp und bin begeistert. Vor ein paar Tagen habe ich Becki geliked und sie hat mir eine Nachricht geschickt. Zuerst reden wir nur über Alltägliches, aber relativ schnell werden unsere Gespräche sehr tiefgründig. Normalerweise lasse ich das nicht zu, weil ich keine Menschen an mich heranlassen möchte, aber Becki gibt mir irgendwie ein total gutes Gefühl, als würden wir uns schon ewig kennen. Seit meinem elften Lebensjahr leide ich unter besonders starken Depressionen, die hatte ich vermutlich schon vorher, aber ab diesem Zeitpunkt wurde es richtig schlimm. Auch Becki hat eine schwierige Vergangenheit und ich bin sehr überrascht, dass sie mir so schnell davon erzählt. Ich erzähle ihr auch von meiner Vergangenheit, aber mein größtes Geheimnis behalte ich für mich. Das habe ich noch nicht einmal meinen Eltern oder Kate erzählt. Wobei ich es bei meiner besten Freundin schon angedeutet habe, aber entweder versteht sie es nicht, oder sie will es nicht verstehen. Wie auch immer, zum Glück kommt das nicht allzu oft zur Sprache. Am Wochenende treffe ich mich mit meiner besten Freundin und wir tauschen uns über die ersten Tage aus. Sie hat sich dazu entschieden, den sozialen Bereich komplett hinter sich zu lassen und eine Ausbildung bei einem Anwalt zu machen. Ich persönlich kann das nicht verstehen, denn in einem Büro zu arbeiten, wäre meine persönliche Hölle. Trotzdem freue ich mich für Kate, denn sie lässt sich nicht so leicht für etwas begeistern, wenn es nichts mit Alkohol, Zigaretten oder chillen zu tun hat. "Mein Chef ist so verdammt cool. An meinem zweiten Arbeitstag hat er uns alle abends auf einen Cocktail eingeladen. Meine Kolleginnen sind zwar alle schon ein bisschen älter, aber eigentlich sind sie auch ganz nett. Ich wurde direkt freundlich begrüßt und aufgenommen.", erzählt Kate begeistert. "Ich bin schon auf die Schule gespannt. Bei mir ist es wahrscheinlich das gleiche, wie die letzten beiden Jahre. Aber ich hoffe, dass ich dieses Jahr bessere Lehrer habe. Du musst mir dann alles über deine neue Schule erzählen, wahrscheinlich ist sie nicht so alt und baufällig, wie unsere alte Schule.", fordere ich meine beste Freundin auf. "Wahrscheinlich sind in meiner Klasse nur blöde und arrogante Bonzen.", befürchtet Kate, die in eher ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist.

Meine schlechte Meinung von meiner Schule bestätigt sich am ersten Schultag nur noch mehr. Tatsächlich habe ich das Pech und bekomme einige Lehrer, mit denen ich mich in den letzten beiden Jahren mehr als einmal angelegt habe. Im Nachhinein betrachtet sind diese Lehrer allerdings gar nicht das Problem. Mit blöden Lehrern setze ich mich schon meine gesamte Schulzeit auseinander. Mein Problem sind die Lehrer, die denken, dass wir noch in der Grundschule sind und deswegen mit uns irgendwelche Kennenlernspiele spielen möchten. Meine Klassenkameraden sind zwischen achtzehn und fünfzig Jahre alt und ich bezweifle, dass irgendjemand von ihnen wirklich Lust hat, sich bei dämlichen Spielen kennenzulernen. Wir sind in einem Alter, da kann man auch normal miteinander reden und sich kennenlernen. Bereits nach der ersten halben Stunde bin ich kurz vorm ausrasten und meine Laune wird auch nicht gerade besser, als auch noch alle anderen Lehrer, die wir an diesem Tag kennenlernen, diese bescheuerten Spiele mit uns spielen wollen. Langsam bereue ich es, eine Ausbildung im sozialen Bereich zu machen, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass Kate solche Spiele an ihrem ersten Schultag spielen muss.

Nachdem ich mich bei meiner besten Freundin über den beschissenen ersten Schultag ausgekotzt habe, erzähle ich ihr von Becki. Kate hört mir gespannt zu. "Und sie ist nicht so eine blöde Bitch wie deine dumme Exfreundin?", fragt sie zweifelnd. Kate hat es gut, sie ist schon seit Ewigkeiten in einer Beziehung und muss in der heutigen Zeit nicht mehr daten, worum ich sie manchmal sehr beneide. "Sie ist fantastisch, nach ein paar Minuten haben wir schon total tiefgründige Gespräche geführt. Sie ist nicht so wie Kelly, sie ist so viel netter und sie ist verständnisvoll. Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich Becki schon ewig kenne.", erkläre ich. "Wie alt ist sie?", fragt Kate, die weiß, dass ich ein Faible für Frauen habe, die mindestens zehn Jahre älter sind, als ich. Beschämt gebe ich zu, dass Becki genau zehn Jahre älter ist. "Das ist ja schon mal ein Fortschritt, wenigstens ist sie nicht so alt wie deine erste große Liebe.", entgegnet meine beste Freundin. Ich schaue sie böse an, dann eigentlich möchte ich mich nicht an Ellen erinnern. Also lenke ich das Thema schnell wieder auf Becki. Abends schreibe ich wieder mit ihr und sobald ich eine Nachricht von ihr bekomme, fange ich an zu lächeln. Das schaffen nicht besonders viele Menschen.

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