Der Tag, an dem Yael alles hinter sich lässt

197 13 7
                                    

Heute melde ich mich auf der Arbeit gezwungenermaßen zum ersten Mal krank. Normalerweise bin ich nicht so. In der Schule fehle ich zwar öfter, aber auf der Arbeit gebe ich immer hundert Prozent. Heute geht es mir wirklich schlecht, sonst würde ich auch gar nicht zuhause bleiben. Mein Vater, der in den letzten sechs Jahren keinen einzigen Tag krank war, versteht das nicht. Als ich ihm sage, wie schlecht es mir geht, glaubt er mir nicht. Warum sollte er auch, ich bin schließlich nur seine Tochter und er weiß ganz genau, dass ich ihn in einer solchen Situation nicht belügen würde. "Jetzt steh auf und geh zur Arbeit!", ruft er wütend. Mein Kopf fühlt sich an, als würde er gleich explodieren. "Yael, es reicht mir langsam mit dir. Du bist faul, unzuverlässig und du gibst viel zu schnell auf. So haben wir dich nicht erzogen.", wirft er mir vor. "Das stimmt, so habt ihr mich nicht erzogen. Ihr habt mich schon im frühesten Kindesalter total auf Leistung getrimmt. Wenn ich eine schlechte Note hatte, dann habe ich einen Anschiss bekommen oder auch mal gar keine Aufmerksamkeit. Das finde ich nicht in Ordnung, vor allem, wenn du mir dann noch Vorwürfe machst. Ich bin keine Kopie von euch, ich habe meinen eigenen Kopf und meinen eigenen Willen.", erkläre ich. Was mein Vater darauf erwidert, kann ich niemandem erzählen. Er lässt mich danach zwar in Ruhe, aber er hat mich wieder einmal zutiefst verletzt und mein Herz gebrochen. Ich habe ihn unfassbar lieb, aber er ist gleichzeitig auch der Mensch, der mich am meisten verletzt hat. Seiner Meinung nach darf man keine Schwäche zeigen, keine Gefühle haben und auch niemals vom geplanten Weg abweichen.

Da ich auf der Arbeit absolut nicht glücklich bin, habe ich einen heftigen Entschluss gefasst. Für mich gibt es keine andere Möglichkeit und ich will auch gar nicht wissen, was meine Eltern davon halten. Mit Becki habe ich bereits darüber gesprochen und sie steht vollkommen hinter mir. Ich möchte mit meiner Verlobten zusammen ziehen und deswegen spreche ich heute mit meinem Chef. Ich erkläre ihm, dass ich mich weder in der Schule, noch auf der Arbeit momentan wohl fühle und dass ich nicht weiß, ob es an mir liegt oder an der Situation mit dem Coronavirus. Wenn Kate hören würde, was ich sage, würde sie mir links und rechts eine scheuern, sie hat mir nämlich gesagt, dass ich meinem Chef alles erzählen soll. Ich sollte ihm alles von Nina und auch alles von Sabrina erzählen, dass sie mich wie Dreck behandelt haben und dass sie mich schikaniert haben. Aber dafür bin ich wohl zu nett. Mein Chef fällt aus allen Wolken und wir treffen die Vereinbarung, dass ich noch bis Jahresende in der Einrichtung arbeite, allerdings nicht als Auszubildende, sondern als pädagogische Fachkraft. Mir persönlich ist das auch lieber, denn ich verdiene somit knapp tausend Euro mehr, als in der Ausbildung, ich muss weniger arbeiten und Nina und Sabrina müssen mich als vollwertige Kollegin ansehen, da ich keine Auszubildende mehr bin. Ich freue mich auch auf meine neuen Freiheiten und Aufgaben, denn ich darf jetzt offiziell Tabletten verteilen und die Kids zu Arztterminen begleiten. Ich frage mich allerdings, warum ich nicht schon früher auf diese Idee gekommen bin.

Kate ist von dieser Idee gar nicht begeistert, sie möchte nicht, dass ich so weit weg ziehe. "Immerhin ziehst du in ein anderes Land.", bemerkt sie. Durch meine Euphorie bemerke ich gar nicht, dass meine beste Freundin Angst hat, mich zu verlieren. Ich bin total motiviert und kläre alles, was den Umzug betrifft, innerhalb weniger Tage ab. Auch die Jobsuche gestaltet sich nicht besonders schwierig, schnell habe ich das passende Stellenangebot gefunden. An einem freien Tag fahre ich also über die Grenze. Ein bisschen aufgeregt bin ich schon, aber das stellt sich als völlig unbegründet heraus. Meine größte Sorge war, dass ich Sprachprobleme haben werde, aber da die Einrichtung relativ nah an der Grenze ist, wird dort auch überwiegend Deutsch gesprochen. Am gleichen Tag unterschreibe ich schon den Arbeitsvertrag. Niemals hätte ich mir vorgestellt, dass das so einfach und schnell möglich ist. Es ist fast zu schön, um wahr zu sein. Nach dem Gespräch fahre ich direkt zu Becki. Ihr geht es wieder einmal schlecht. Diesmal, weil Cosmo nichts mehr mit ihr zu tun haben möchte. Sie erzählt mir nicht, was genau vorgefallen ist, aber es scheint sie sehr mitzunehmen. Mehr als ein 'Toll' bekomme ich von ihr nicht zu hören. Das stört mich ehrlich gesagt etwas. Am nächsten Tag ist sie allerdings total motiviert und hat bereits ihren Hobbyraum ausgeräumt, damit ich dort meine Sachen deponieren kann. Der Raum ist total groß und leer, deshalb bestellen wir direkt einen Kleiderschrank und eine Kommode. Ich bin total begeistert und freue mich auf die gemeinsame Zeit mit meiner Verlobten.

Als Becki mich nach Hause fährt, überlegen wir uns, wie wir das meinen Eltern möglichst schonend beibringen können. Uns fällt allerdings nichts ein, deshalb erzählen wir es möglichst beiläufig beim Essen. Meine Eltern machen keine Luftsprünge, das hätte ich auch nicht erwartet, aber sie reagieren auch nicht so schlimm, wie ich es mir vorgestellt habe. Natürlich haben sie Bedenken, das hätte wahrscheinlich jeder, aber trotzdem scheinen sie sich wenigstens ein bisschen für uns zu freuen. Mein Vater verspricht mir, die Möbel, die ich mitnehmen möchte, zu transportieren und bei Becki wieder aufzubauen. Auch meine Mutter unterstützt uns, indem sie mehrmals mit dem Auto zu Becki fährt und mir meine Bücher bringt. Ich nehme jedes Mal eine große Sporttasche oder einen Koffer voller Klamotten mit zu Becki, wenn ich nach der Arbeit zu ihr fahre. Kate ist immer noch nicht begeistert von der Idee und langsam spüre ich ihre Unsicherheit. "Ich bin hier einfach nicht mehr glücklich. Bei Becki wirkt alles so leicht, dort kann ich einfach ich selbst sein.", erkläre ich. Kate hat allerdings berechtigte Zweifel. Diese teilt sie mir auch knallhart und ehrlich mit. Sie spricht das Geld an, denn sie macht sich Sorgen, dass Becki mich finanziell ausnutzen könnte. Sie macht sich Gedanken, dass ich nicht glücklich werde und sie gibt zu bedenken, dass Becki ein massives Alkoholproblem hat. Ich schlage ihre Bedenken in den Wind. "Was soll denn schon schlimmes passieren?", frage ich. Becki hat sich doch in der letzten Zeit so positiv verändert. Sie trinkt kaum noch und wir haben schon so lange nicht mehr gestritten. Meine Verlobte ist auf einem sehr guten Weg. Außerdem kann ich nicht länger mit meinen Eltern in einem Haus wohnen, wir streiten uns mittlerweile fast täglich. Mein Vater ist beruflich stark eingespannt und arbeitet fast zwölf Stunden pro Tag. Das stresst ihn sehr und das lässt er meistens an mir aus. Ich muss ihm nur zufällig über den Weg laufen und er schreit mich grundlos an. Das lasse ich mir natürlich nicht gefallen und die Situation eskaliert ziemlich schnell. Meine beste Freundin schaut mich kopfschüttelnd und absolut fassungslos an, als ich ihr erzähle, wie positiv sich meine Verlobte verändert hat.

Eigentlich hätte ich gedacht, dass die Situation auf der Arbeit jetzt besser wird, aber Sabrina scheint jetzt gar nichts mehr von mir zu halten. Sobald ich sie anspreche, verdreht sie die Augen. Auch Nina hat keine besonders gute Meinung von mir, sie unterhält sich die meiste Zeit mit Sabrina und eigentlich möchte ich gar nicht wissen, was sie über mich denken oder reden. Leider halten die Kids sehr viel von Sabrina, denn sie bringt ihnen ziemlich oft abgelegte Klamotten oder Spielzeug von ihren eigenen Kindern mit. Damit kann ich leider nicht dienen. Sie lässt mich auch jetzt noch alle Aufgaben erledigen, auf die sie keine Lust hat. Die schönen Aufgaben pickt sie sich heraus. Zum Beispiel will sie alle Weihnachtsgeschenke für die Kids besorgen und wenn ein Kind Geburtstag hat, unternimmt sie etwas mit dem Kind. Das ist natürlich auch ein Grund, warum die Kids so begeistert von ihr sind. Als ich Sabrina darauf anspreche, dass ich das auch gerne wenigstens einmal übernehmen würde, blafft sie mich an, dass ich dafür noch nicht genug Erfahrung habe. Da sie nicht meine Chefin ist und ich mittlerweile auch eigenständige Entscheidungen treffen kann, ohne diese abzusprechen, trage ich mich für den Geburtstag eines Kindes ein. Natürlich habe ich das Kind vorher gefragt, ob ich das machen darf. Die dreizehnjährige hat mir das bestätigt, denn sie kommt mit mir besser zurecht, als mit meiner Kollegin. Als Sabrina davon erfährt, beschwert sie sich sofort bei unserem Chef. Dieser bittet mich in sein Büro und erklärt mir, dass Sabrina eben so ist, wie sie ist und ich soll solche Dinge in Zukunft mit ihr besprechen. Wenn die Situation nicht so absurd wäre, würde ich eigentlich lachen. Auch mein Chef lässt sich von Sabrina herumscheuchen. Wenn nicht einmal er sie im Griff hat, wer soll ihr dann sagen, dass sie sich etwas zurückhalten soll? Die letzten Wochen sind echt die Hölle und eigentlich bin ich ganz froh, dass niemand über Weihnachten und Silvester gerne arbeitet. Deswegen arbeitet nur jeweils einer auf jeder Gruppe. So friedlich war es schon lange nicht mehr, gerade weil Feste wie Weihnachten für Sabrina und Nina heilig sind. In den Tagen zwischen Weihnachten und Silvester dreht Sabrina nochmal richtig auf. Ihr passt es nicht, dass meine Kollegen und ich die Bescherung in der unteren Gruppe geplant haben. Den Kindern hat es allerdings sehr gefallen. Es war zwar etwas chaotisch, aber jeder hatte Spaß und es ist nichts passiert. Ich habe die Kinder schon lange nicht mehr so glücklich und ausgeglichen erlebt. Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich Sabrina getan habe, denn mittlerweile hat sie es geschafft, dass sich auch Mark von mir distanziert. Ich bin so froh, wenn ich an meinem letzten Arbeitstag das Tor hinter mir schließe und endlich in mein neues Leben starten kann.

You're still my person | LGBTQWo Geschichten leben. Entdecke jetzt