LV - Die Straßen von Ardport

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Jahr 349 nach dem Götterkrieg, Spätsommer

Die Zitadelle


Der falsche Gott zeigte ihr, wer sie war. Zeigte ihr die Straßen von Ardport. Zeigte ihr das kalte Pflaster. Den Hafen. Ihren alten Unterschlupf.

Sie spürte das Wasser auf ihre Haut tropfen. Den kalten Wind. Den Stein unter ihren nackten Füßen.

Der Hunger nagte an ihr, als sie durch die Gassen schlich. Sie ging den Leuten aus dem Weg. Spürte ihre Blicke. Ihre Ablehnung.

Sie spürte den Tritt einer Wache, als sie zu sich kam. Der Mann schrie sie an. Sie verschwand zurück in die Schatten. Humpelte die Gasse entlang. Nur weg.

Er zeigte ihr, wie sie damals den Jungen in der blutigen Pfütze hatte liegen lassen. Es war ein guter Tag für sie gewesen. An diesem Abend hatte sie gegessen. Er nicht.

Die anderen Straßenkinder. Wie sie ihr aus dem Weg gegangen waren.

Zeigte ihr Báine. Das einzige freundliche Gesicht aus dieser Zeit, an das sie sich erinnerte. Wie sie das wenige, das sie hatten, geteilt hatten. Und wie sie eines Tages verschwand.

Das Mal, als sie den rohen Fisch gestohlen hatte und noch am Hafen so viel sie konnte herunter geschlungen hatte. Eines von vielen Malen.

Und dann eines der Male, als sie erwischt wurde und nach einer Tracht Prügel die Nacht vor Schmerz gekrümmt auf dem Boden einer Zelle verbracht hatte.

Das zweite Mal. Und das Mal, als sie ihr das Ohr geschlitzt hatten.

Er zeigte ihr den Keller unter dem verlassenen Haus. So viele Nächte hatte sie hier verbracht. Sie hatte sich dort sicher gefühlt. Nach einem Jahr hatte sie ihn sich fast wie ein Zuhause eingerichtet. Oder das, was sie damals für ein Zuhause hielt.

Eine Ecke, in der sie lagerte, was sie an Essen fand. Und ein Bett. Das beste Bett, das sie sich bauen konnte. Säcke, gefüllt mit Stofffetzen und was sie sonst noch so fand.

Und dann zeigte er ihr den Tag, an dem sie das alles verlor.

Wie sie am Ende selbst blutig auf dem kalten Pflaster von Ardport lag.

Wie sie sich nicht sicher gewesen war, ob es für sie weitergehen würde oder ob sie für immer hier einschlafen würde.

Und er zeigte ihr Fáelán, wie er sie aus dieser Hölle empor hob. Ihr ein Haus gab. Sie unterrichtete. Ihr das nächste war, was sie zu einer Familie hatte. Und dann, wie sie ihre Seele verlor.

Ein Geschenk. So bot er es ihr an. Er verlangte nichts von ihr. Und sie wusste, dass es falsch war.

Doch sie wollte es.

Sie würde nicht mehr sein, wie sie war. Wer sie werden würde, war ihr egal. Was sollte ihr passieren? Ihre Seele hatte sie schon verloren. Machtlos und schwach war sie schon.

Und so reichte sie dem falschen Gott ihre Hand.

Nie wieder würde sie schwach sein.

Nie wieder würde sie nach dem Willen anderer Leben.

Necrosis (Weltentod I) [Deutsch]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt