LI - Geh sanft

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Die Sterne am Himmel funkelten, als wüssten sie nichts von den Vorkommnissen hier auf Erden. Als wären ihnen die Tränen egal. Gleichgültig hingen sie dort in ihren Sphären und lauschten. Ein jeder heller Punkt gleich dem Spott der Götter.

Der Wind brachte den Geruch von Salzwasser und Verheißungen von Freiheit und Trost. Doch wollte sie beides nicht. Was sie wollte, war fort.

Sie wischte die erste Träne aus ihrem Gesicht und senkte ihren Blick vom grausam gleichgültigen Nachthimmel zu dem leblosen Körper. Zu allem, was ihr etwas bedeutete. Zu allem, was die Welt ihr gutes geschenkt hatte. Zu allem, was ihr diese Welt genommen hatte. Und sie wünschte, alles wäre anders.

Im Licht des Feuers schien es, als würden die Linien auf dem Leichentuch tanzen. Als würden sie die Geschichte erzählen. Erinnerungen aus Stoff, Pigment und Schatten. Es war das mindeste, was sie hatte tun können. Die Götter sollten wissen, wen sie ihr genommen hatten.

Sie stand nur da, die Fackel noch in ihrer Hand, während sie in die Flammen starrte. Leer. Und als die Fackel ausgebrannt war und sie nicht mehr stehen konnte, setzte sie sich in den Sand zwischen das Treibholz. Und als sie nicht mehr hinsehen konnte, zwang sie sich dazu.

Sie weinte. Weinte ob der Grausamkeit der Welt.

Und sie sang. Wie es ihre Mutter früher getan hatte.

Und sie schrie ihren Zorn gegen die Götter in den Himmel.

Und sie saß stumm da und versuchte, sich nicht zu erinnern.

Doch sie hielt ihre Wacht. Und sie hätte noch tausend Nächte hier gesessen, wenn es etwas geändert hätte. Doch das würde nicht geschehen.

"Geh sanft in diese Nacht.
Schließ deine Augen, Simê.
Lass dich von den Wellen davon tragen.
Es tut mir leid.
Ich hab mein Versprechen gebrochen.
Aber bitte, geh sanft in diese Nacht.
Warte auf mich, falls du musst, aber bitte geh deinen Weg, wenn du kannst."

Die Flammen fraßen das Holz. Fraßen das Leinen. Und fraßen den leblosen Körper. Und sie hielt Wacht. Und als die Götter es in ihrer Grausamkeit für angebracht hielten und der nächste Tag anbrach, hielt sie noch immer Wacht. Saß da, ihre Arme um ihre Knie geschlungen und starrte in die Asche. Sah ihr zu, als der Wind sie davon trug.

Und mit der Asche fand die Seele hoffentlich den Weg von dieser Welt in die nächste.

Necrosis (Weltentod I) [Deutsch]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt