Jahr 349 nach dem Götterkrieg, Spätsommer
Rúnknǫttr, Titanengrab
"Habt ihr etwas?", wollte Iora wissen. Ihre Suche war in etwa so erfolglos gewesen, wie sie erwartet hatte. Das Pergament mit dem Ritual oder der Reisebericht über die Eisenwälder zählten nicht und so hatte sie nun nur zwei Schriftrollen vorzuweisen, die annähernd zu dem passten, was sie suchten. Die eine beschrieb den 'Tag, an dem die Schöpfer fielen' sechs Strophen lang in allen Einzelheiten. Diese war die deutlich langweiligere.
Die andere - sie hatte sie erst am Ende ihrer Suche entdeckt - erwähnte eine Kette im Zusammenhang mit dem Fall der Ersten. Und wenn Thorgest recht hatte damit, was er über die Elfe erzählt hatte, die den Kontinent geeint haben soll, dann war es vielleicht die Kette, die Giræsea momentan bei sich trug. Und das schien ihr nach einigen Stunden Suche dann doch interessant genug, um es den anderen zu zeigen. "Ich habe leider nur das." Sie zog beide Schriftrollen aus ihrer Tasche und entrollte die über die Kette, um sie den anderen zu zeigen.
"Eine Frechheit, dass der Autor die originale Strophe nicht eingefügt hat. Und über seine Übersetzung würde ich auch gerne mit ihm oder ihr reden", kommentierte Thorgest.
"Ich finde es interessant. Wenn ich schon sonst nichts habe. Deine Kette heißt Träne der Ersten, Gira." Scheiße! Hatte sie gerade laut...? Sie widerstand dem Reflex, zusammen zu zucken und versuchte so zu tun, als wäre nichts gewesen. Zum Glück sprach Thorgest schon weiter, aber sie stahl dennoch aus dem Augenwinkel einen Blick auf Giræsea und versuchte, aus ihr zu lesen. Sie konnte es nicht.
"Nur in dieser Übersetzung. Ich hoffe, es liegt an der Übersetzung. Es ist ein äußerst kitschiger Name", tat Thorgest wieder seinen Unmut über das geschriebene Kund.
Sie hatte zwar schon ein paar Mal von ihr als Gira gedacht, aber es nie laut gesagt. Es war... komisch.
"Es ist poetisch", widersprach sie Thorgest, in der Hoffnung, sich abzulenken und nicht dunkel anzulaufen.
Giræsea nahm den Text aus Thorgests Hand und besah ihn sich. "Gefallen vom Himmel; getragen in Unschuld; gegeben für Frieden" Sie überflog die Zeilen. "Klingt für mich eigentlich recht typisch. Keiner sagt, was er meint und jeder braucht dreimal so viele Wörter, etwas zu sagen, wie nötig. Und kitschig war bisher noch jedes, das mir untergekommen ist."
"Es ist schön zu sehen, dass sie in all den Jahren deine Meinung zur Poesie einfach nicht ändert", erwiderte Thorgest.
Sie zuckte mit den Schultern. "Überzeug mich vom Gegenteil."
"Vielleicht bekommen wir ja hieraus ein paar mehr Informationen." Iora hielt Thorgest die zweite Schriftrolle hin.
Thorgest führte sie durch das Labyrinth aus Regalen zurück zu einem der Tische. Iora war noch immer erstaunt davon, wie wenig Leuten sie bisher begegnet waren und dass sich niemand für sie zu interessieren schien.
Giræsea trat einen Schritt schnell nach vorne an Iora heran und so leise, dass Thorgest es vermutlich nicht hören konnte, zwei Worte, die Ioras Seele aus ihrem Körper fahren ließen.
"Gira also, hmm?"
Und in diesem Moment wollte Iora sterben. Ihre Gedanken überschlugen sich. Ihr Gesicht wurde heiß. Und sie konnte beim besten Willen nichts antworten. Sie wäre fast gestolpert. Blieb stehen. Giræsea grinste sie an und ging an ihr vorbei, Thorgest hinterher. Und es wäre gelogen, wenn Iora nicht in diesem Moment darüber nachgedacht hätte, zu verschwinden und irgendwo hin zu gehen, wo sie niemand kannte.
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Necrosis (Weltentod I) [Deutsch]
FantasíaDie Welt liegt im Sterben. Die Bäume verdorren, der Boden wird unfruchtbar und die Toten weigern sich, tot zu bleiben. Wie eine Krankheit breitet es sich vom Westen her aus. Aus dem Eisenwald heraus und über die zentralen Ebenen und die Flusslande. ...