Jahr 349 nach dem Götterkrieg, Spätsommer
Rúnknǫttr, Titanengrab
Es war die letzte Nacht vor ihrer Abreise. Iora saß auf ihrem Zimmer und spielte mit dem Pergament, das sie aus der Bibliothek hatte mitgehen lassen. Ihre Notizen auf dem Boden ausgebreitet.
In der ersten Nacht hatte sie es nur angestarrt. Ebenso in der zweiten. Würde sie diesen Schritt wirklich gehen?
In der dritten Nacht hatte sie es entfaltet und vollständig gelesen. Weiter hatte sie sich nicht getraut und es wieder in ihrer Tasche verstaut.
In der vierten hatte sie angefangen es - so gut sie konnte - zu entziffern und zu übersetzen. Natürlich hatte sie am folgenden Tag weiterhin nach Informationen zur Schatulle gesucht. Aber wenn sie über etwas gekommen war, das ihr in ihrem eigenen Unterfangen half...
Und so hatte sie in Nacht sechs alles, was sie brauchte. Und sie zögerte. Wenn sie das tat, würde kein Weg mehr zurückführen. Sie hatte in dieser Nacht kaum geschlafen.
Und jetzt saß sie auf dem Boden. Einen Arm um ihre Knie geschlungen. Und sie hoffte, ihre Ahnen sahen ihr nicht zu. Sie hielt das Pergament in ihrer Hand. Las es wieder und wieder. Sie wusste, sie würde es tun. Es war keine Entscheidung, die sie gefasst hatte. Es war eine Tatsache, die sich in den letzten Nächten in sich hatte wachsen gespürt. Und jetzt war es soweit. Sie war bereit. Sie hatte alles, was sie brauchte. Und dennoch zögerte sie. Doch wieso? Es war so einfach. Ein paar kleine Schritte und sie könnte alles haben, was sie wollte.
Und dann war sie sich sicher, dass es der falsche Weg war und tat es dennoch.
Sie biss sich die Kuppe ihres Daumens blutig und drückte sie auf das Pergament. Und sie spürte, dass die falschen Götter ihr ihre Aufmerksamkeit schenkten. Und damit war es also zu spät, umzukehren. Sie hatte gehofft, sich in diesem Moment entschlossener zu fühlen. Doch sie erinnerte sich, warum sie es tat und ging den nächsten Schritt.
Sie entledigte sich ihrer Kleidung und legte sie auf ihr Bett.
Die acht Zeichen.
Iora nahm den Kohlestift und brachte sie erst auf dem Boden um sie an, dann an ihrem Körper. Auf ihren Handrücken. Ihren Füßen. Auf ihrer Brust. Auf ihrer Stirn und unterhalb ihres Bauchnabels.
Diese würden ihren Anker zu dieser Welt bilden.
Die acht Worte.
Sie sprach sie. Ein jedes in ihrem Schädel wie ein Hammerschlag, obwohl sie kaum wagte zu flüstern.
Diese zeigten die falschen Göttern, was sie wollte.
Gold.
Sie legte sich eine Münze unter die Zunge. Sie schmeckte dreckig und metallisch.
Das edelste Metall und ein Symbol des Respekts.
Und dann zögerte sie wieder. Was noch fehlte, waren der Preis - Blut - und der ekstatische Geist und die Brücke. Und sie hatte sich überlegt, wie sie es tun wollte. Das Messer lag neben ihr. Aber... War es Scham? Vielleicht. Das Wissen, das falsche zu tun? Aber dann machte sich wieder dieses verführerische Gefühl in ihr breit, dass sie tun konnte, was sie wollte. Dass sie endlich Rache nehmen könnte. Dass sie bekam, was sie verdiente. Dass sie es sich nehmen konnte.
Also mach ich das wirklich...
Sie fasste sich zwischen die Beine. Es war... komisch. Es war nicht das erste Mal, aber definitiv das erste Mal unter diesen Umständen. Es war absurd. Für magische Fähigkeiten...
Sie schaffte es nicht, loszulassen. Kam nicht in die Stimmung. Sie versuchte es anders. Sie spuckte sich in die Hand - beinahe wäre ihr die Münze aus dem Mund gefallen - griff anders zu und versuchte es sanfter. Gab sich Mühe, langsam zu atmen; ihren Empfindung nur auf ihre Hand zu konzentrieren; ihren Geist zu leeren; ihre Hüften im gleichen Rhythmus zu bewegen.
Die Zeit verging und sie war frustriert. Es war so viel leichter, wenn sie in der Stimmung war und sich dann darum kümmerte. Es half, wenn sie sich etwas vorstellen konnte. Sie hätte das Buch aus der Bibliothek mitgehen lassen sollen. Priesterin der Lust. Das würde ihr jetzt sicher helfen.
Und dann hing sie gedanklich in der Bibliothek. In dem gewaltigen Turm. Höher und tiefer, als sie sehen konnte. Mehr Bücher, als sie hoffen konnte, in der Spanne eines Lebens zu lesen. Giræsea, die von hinten an sie heran trat und ihr eine Hand auf die Schulter legte. Sie konnte ihre Stimme fast hören. "Beeindruckend, nicht?" Ihren warmen Körper hinter sich spüren. Sie stellte sich vor, wie ihre Hand sich über Ioras legte und sie führte. Ihr anderer Arm sich um ihren Körper legte und sie an sich zog. Wie sie roch. Wie sie hinter ihr atmete. An ihrem Ohr vorbei. Sie verlor sich darin. Und sie hätte beinahe vergessen, was sie tat.
Während Giræsea sie zum Höhepunkt brachte, fand das Messer seinen Weg an ihre Kehle.
Und dann stand sie in den dunklen Schatten alter Gemäuer. Ruinen. Die Leiche einer glanzvollen Stadt. Und sie wurde willkommen geheißen. Das gewaltige Tor vor ihr stand weit offen und der Wind wehte den Sand, der sich in Jahrtausenden gesammelt haben musste, hindurch.
Sie folgte der stummen Aufforderung. Wanderte die Straße entlang. Eine Schlucht zwischen Wänden aus Bauten, die in den grauen Himmel ragten. Die Farbe blätterte vom Stein und die goldenen Verzierungen waren matt. Nichts wuchs, allein der Wind trug Stück um Stück den Stein ab.
Sie kam vorbei an einem Turm, der abrupt endete und dessen Umgebung gesäumt war mit Glassplittern in verschiedensten Farben. Sie fand das metallene Gerüst einer Pyramide, in dessen Innerem die vertrockneten Überreste eines Gartens ihre ewige Ruhe gefunden hatten. Sie ließ beides hinter sich und folgte weiter der Straße. Immer vorwärts. Immer aufwärts.
Sie fand die zerschmetterten Überreste einer Statue, die wohl einst über diese Straße gewacht hatte. Sie konnte die Aufschrift der Plakette nicht lesen, doch sie spürte nichts als Ehrfurcht.
Endlich konnte sie über einen Teil der kleineren Gebäude hinweg sehen. In der Ferne sah sie ein Gebirge wie die Knochen von Göttern. Das Titanengrab war nichts im Vergleich. Und sie spürte nichts als Ehrfurcht.
Dieser Ort ließ sie wissen, dass sie hier unbedeutend war und dennoch das einzige Leben. Sie war hier, weil sie geduldet wurde. Aber man wünschte sie hier.
Zwischen Tempeln, Burgen, Türmen und Statuen setzte sie ihren Aufstieg fort. Sie hatte nun das Zentrum der Stadt erreicht und war nicht länger auf festem Boden. Über Treppen und Rampen erklomm sie die labyrinthische Zitadelle. Folgte verschlungenen Gängen im Inneren. Folgte Gängen entlang des Äußeren des Gerippes, von denen sie das ganze Land überblicken konnte. Durchquerte Hallen, die seit drei Ewigkeiten niemand mehr betreten hatte. Betrat Räume, deren Funktion sie nur erahnen konnte. Bestaunte Gemälde, die alles zeigten, was sich ihr Geist auszumalen vermochte. Fühlte sich beobachtet und fand nur sich selbst reflektiert in den kristallenen Göttern eines gefallenen Volkes. Was dient einem Gott als Gott?
Und nach der Lebensspanne einer Welt hatte sie endlich den Ausweg gefunden. Stand an der Spitze. Sah einem falschen Gott ins Gesicht. Und fürchtete zu verlieren, was noch von ihr übrig war.
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Necrosis (Weltentod I) [Deutsch]
FantasyDie Welt liegt im Sterben. Die Bäume verdorren, der Boden wird unfruchtbar und die Toten weigern sich, tot zu bleiben. Wie eine Krankheit breitet es sich vom Westen her aus. Aus dem Eisenwald heraus und über die zentralen Ebenen und die Flusslande. ...