-Erens Sicht-
Ich warf einen Blick auf die große Uhr, die im Flur hing. Es war genau eine Stunde vergangen. ,,Du bist jetzt mit Wache halten dran", sagte ich und wandte meinen Blick von den Zeigern der Uhr ab, um Levi anzusehen, ,,wenn du möchtest, bleibe ich noch etwas bei dir, immerhin hast du mir auch Gesellschaft geleistet."
,,Willst du dich nicht lieber Schlafen legen?", fragte Levi. Ich schüttelte den Kopf. Wir gingen den Flur entlang und als wir vor dem Zimmer von Furlan und Isabel ankamen, ertönten Geräusche. Sofort schoss Röte in meine Wangen und ich sah zu Levi.
,,Unfassbar", brachte er hervor und ging augenverdrehend weiter. Es scheint so, als wäre das nicht das erste Mal gewesen, dass Levi die beiden bei ihrem Tun gehört hatte.
Der Schwarzhaarige setzte sich neben Hanjis Zimmertür auf den Boden und lehnte sich gegen die Wand, was ich ihm gleichtat. Wir waren die ganze Stunde den Flur auf- und abgelaufen und ich war mir sicher, dass Levi im Gegensatz zu mir problemlos noch viele weitere Stunden in Bewegung bleiben konnte.
Ich sah den Schwarzhaarigen an und betrachtete sein Seitenprofil. Wie auch immer diese Narbe auf seinem Gesicht entstanden war, er konnte von Glück sprechen, dass seinem Auge nichts passiert war. Die Narbe verlief nämlich über sein Auge bishin zu seinen schmalen Lippen.
,,Ist irgendetwas?"
Ich zuckte zusammen und schüttelte meinen Kopf. Dann fiel mein Blick auf die Pistole in seinem Holster und blieb an ihm haften. ,,Darf ich dich etwas fragen?", brachte ich hervor. ,,Nur zu." Ich befeuchtete meine Lippen und sah dem Schwarzhaarigen in die Augen. ,,Hast du schon einmal einem Menschen das Leben genommen?"
,,Nicht nur einen", erwiderte er ohne zu zögern. Auch wenn ich nichts anderes erwartet hatte, überraschte mich seine Antwort. ,,Hälst du mich jetzt für einen schlechten Menschen?" Ob ich ihn für einen schlechten Menschen hielt? ,,Du machst mir nicht den Eindruck, ein schlechter Mensch zu sein", antwortete ich.
,,Welchen Eindruck mache ich dir denn dann?", fragte Levi. ,,Um ehrlich zu sein, hat mich dein kalter Blick am Anfang etwas eingeschüchtert. Aber ich denke, dass du jemand bist, der seine Gefühle nicht gerne zeigt", sagte ich, während der Schwarzhaarige mir aufmerksam zuhörte und von dem, was ich sagte, interessiert schien.
Ich machte eine kurze Pause, ehe ich weitersprach. ,,Du hättest mir sonst was antun können, als du in meiner Wohnung aufgetaucht bist, aber das hast du nicht - genauso wenig wie Hanji. Du hast mir stattdessen das Leben vor diesem Monster gerettet. Ein anderer hätte das vielleicht nicht getan."
,,Du denkst also nichts Schlechtes von mir", fasste Levi zusammen. ,,Das tue ich nicht", bestätigte ich. Der Raum füllte sich mit Stille und alles fühlte sich mit einem Mal so unwirklich an - das leere Krankenhaus, die Monster, selbst unsere Existenz.
,,Die Menschen, die ich getötet habe, waren Kriminelle gewesen", fing Levi an und brach somit die Stille zwischen uns. Ich habe auch nichts anderes erwartet. ,,Die meisten von denen gehörten einer Mafia in Quinta an, die mir an den Kragen will. Aber die Details erspare ich dir."
Eine was-
,,Hattest du ein schlechtes Gewissen, als du diese Menschen umgebracht hast?", fragte ich vorsichtig nach. ,,Nur ein einziges Mal", gab Levi zu. ,,Ich habe meinen Schuss verfehlt und einen Mann getötet. Er hatte zwei kleine Kinder... Ich habe ihnen den einzigen Menschen genommen, den sie noch hatten."
Ich konnte den Schmerz aus Levis Stimme heraushören, auch wenn man meinen könnte, dass diese monotone Stimme keinerlei Emotionen hatte. Ich streckte meine Hand leicht aus, um Levi an seiner Schulter zu berühren, doch ich zögerte und senkte sie wieder.
,,Das tut mir leid", brachte ich hervor, aber Levi beachtete mein Mitgefühl nicht weiter. ,,Wie alt warst du, als dein Vater tödlich verunglückt ist?", fragte er plötzlich. ,,Zehn oder elf", antwortete ich.
Levi lehnte seinen Kopf nach hinten und fuhr sich durch sein schwarzes Haar, ehe er seine Augen schloss und die Luft in seiner Lunge entweichen ließ. Ich sah deutlich, wie sich sein Brustkorb dabei senkte.
,,Als ich Hanji und dich nach euren Familien gefragt hatte, hast du mir nicht geantwortet", fing ich an, doch bevor ich meinen Satz beenden und ihn fragen konnte, ob er mir meine Frage vielleicht jetzt beantworten würde, unterbrach er mich. ,,Sie sind tot." Levi öffnete seine Augen und sah mich ausdruckslos an.
Sie sind tot...
Meine Augen weiteten sich und ich sah den Schwarzhaarigen für einige Sekunden wortlos an. Diese Leere in seinen Augen und sein emotionsloser Gesichtsausdruck schmerzten.
,,Meine Familiengeschichte ist sehr kompliziert, Eren", erklärte Levi, als er seinen Blick wieder von mir abwandte. ,,Ich habe Zeit", erwiderte ich und sah Levi an. Ich dachte noch nicht einmal daran, meinen Blick von ihm abzuwenden. Er sollte reden, ich würde ihm bis zum Ende zuhören, selbst wenn das bedeuten würde, dass wir bis zum Sonnenaufgang in diesem Flur sitzen würden.
,,Du musst wissen, dass es eine sehr schwerwiegende Tat ist, sich gegen die Ackerman-Familie zu stellen und ihren Namen in den Dreck zu ziehen, wenn man ihr angehört. Sie ist ein kleiner Zweig der Mafia, von der ich dir erzählt habe - sie ist es, die mir an den Kragen will", fing Levi an zu erzählen und ich wusste, dass das, was ich gleich hören würde, mich nicht schlafen lassen könnte.
Sein Nachname war Ackerman.
,,Meine Mutter war eine Ackerman. Sie hat ihrer Familie den Rücken zugewandt, als es hieß, ihr Sohn solle in Zukunft seine Hände schmutzig machen. Ich sollte lernen, wie man stiehlt, droht und tötet. Sie hat ihrem Bruder eine Menge Geld gestohlen und ist mit mir in eine andere Stadt geflohen. Ich war noch ein Kind, ich habe zu dem Zeitpunkt nicht verstanden, was da gerade passiert."
,,Levi..."
,,Wir haben Quinta verlassen und ein neues Leben in einer anderen Stadt begonnen. Es hat nicht lange gedauert, bis meine Mutter sich in einen Mann verliebt hat. Sie haben geheiratet und ein paar Jahre später haben sie ein Kind bekommen, ein Mädchen. Ich weiß noch, wie ich meine Schwester das erste Mal in meinen Armen gehalten habe. Sie hatte große Augen und sie war so unfassbar klein, Eren. Wir waren eine glückliche Familie, ich habe sie alle sehr geliebt."
Als ich das schwache Lächeln auf Levis Lippen sah, brach mein Herz in kleine Stücke. Seine Augen füllten sich mit Tränen und ich wollte nichts sehnlicher, als diesen Mann in meine Arme zu nehmen.
,,Wie war ihr Name?"
,,Mikasa."
,,Was ist... passiert?"
Levi schwieg und ich wusste, dass ich nicht weiter nachhaken sollte. Ich fragte ihn nicht, was mit seinem leiblichen Vater passiert war oder wie seine Familie verstorben war - seine Halbschwester, sein Vater und seine Mutter. Ich fragte auch nicht, wie er als einziger überlebt hatte und ob die ganzen Narben auf seinem Körper etwas mit dieser Mafia, der Ackerman-Familie, zutun hatten.
Das einzige, was ich wusste, war, dass er sehr darunter litt.
,,Hanji ist jetzt mit Wache halten dran", sagte Levi und erhob sich vom Boden. Er stellte sich mir gegenüber und streckte mir seine Hand hin, die ich zögerlich umgriff. Sie war größer als meine und fühlte sich etwas rau an. Als er mich dann auf die Beine zog, lösten wir unsere Hände voneinander.
,,Geh in dein Zimmer und leg dich Schlafen, ich werde sie wecken." Bevor ich ging, wandte ich mich noch einmal zu ihm. ,,Danke, dass du offen mit mir darüber geredet hast, Levi", sagte ich. ,,Du hast mich nicht verurteilt, obwohl ich Menschen getötet habe, Eren. Du hast mir zugehört. Ich bin derjenige, der dir danken sollte", erwiderte er.
Ich lächelte.
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Heute mal ein langes Kapitel :)
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Monster [Ereri/Riren]
FanfictionEines Nachts wird Eren Jäger von lauten Sirenen, die die Bevölkerung vor Gefahren warnen, aus dem Schlaf gerissen. Kurz darauf stellt er entsetzt den Grund für die plötzlichen Warnsignale fest - in Shiganshinas Straßen laufen menschenähnliche Kreatu...