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-Levis Sicht-

Raus. Wir müssen raus aus dieser Stadt. Aber es war mitten in der Nacht - überall waren Monster. Die kalte Nachtluft streifte meine Haut, als Eren und ich den Untergrund verließen und die Tür hinter uns schlossen.

Wir waren alleine.

Ich nahm Erens Hand in die meine und zog ihn hinter mir her. Ich konnte nicht riskieren, dass wir getrennt wurden. Vielleicht brauchte ich auch gerade jemanden, der mich hielt. Hanji war tot.

Unser Ziel war meine Wohnung. Dort wären wir über Nacht sicher, denn sobald kein Tageslicht mehr schien, wimmelte es nur so von Monstern.

Wir gingen zu Fuß und machten uns nicht die Mühe, uns nach einem Auto umzusehen. Auf den Straßen lagen Leichen, Autos und Mülltonnen, mit einem Auto würde man kaum die Hindernisse überwinden können. Zu Fuß waren wir schneller. In Quinta herrschte ein unbeschreibliches Chaos.

Selbst Gebäude waren eingestürzt, weil Monster in sie eingedrungen waren und sie von innen heraus verwüstet hatten. Sie hatten Menschen auf die Straßen gezerrt und ihre Zähne in ihr warmes Fleisch gebohrt. Kinder, Mütter und Väter... aber Tiere hatten sie vollkommen ignoriert.

Da der Strom ausgefallen war, war es Eren kaum möglich, die ganzen Leichen zu sehen, die auf dem Boden lagen. Ich war froh, dass ihm das erspart blieb, aber gleichzeitig hatte ich Angst davor, einem dieser Monster über den Weg zu laufen. Ich drückte Erens Hand fester und stellte sicher, dass er noch bei mir war.

Ich hatte keine Zeit, um um meine Freunde - meine Familie - zu trauern. Ich musste als erstes Eren in Sicherheit bringen. Ich musste dafür sorgen, dass wenigstens er überlebte. Wenigstens einer von uns.

,,Im Gegensatz zu jener Nacht, in der die Monster aufgetaucht waren, sind hier kaum noch welche", brachte ich hervor. Um ehrlich zu sein, waren wir in den vier Stunden, in denen wir auf den Beinen waren, keinem Monster hier draußen begegnet. Zumindest waren keine unmittelbar in unserer Nähe gewesen.

Vielleicht waren sie nicht mehr hier, weil sie die Stadt bereits zerstört hatten und Nahrung suchten - Menschen, die sie verspeisen konnten. Kenny war weitaus schlimmer als diese Kreaturen. Er war das Monster, nicht sie.

Er.

,,Viele der Ackerman-Familie sind entkommen, sie laufen dort draußen herum... Sie werden mich suchen und im schlimmsten Fall töten", erklärte ich Eren. ,,Kenny ist tot, warum sollten sie sich die Mühe machen?", fragte er und ich merkte, dass Eren keine Ahnung hatte. ,,Weil ich ihre engsten Verwandten getötet habe, weil Kenny ihnen eingetrichtert hat, ich solle getötet werden. Außerdem läuft Reiner hier draußen rum."

Eren bliebt abrupt stehen. Ich wandte mich zu ihm nach hinten, ohne seine Hand loszulassen. ,,In meiner Wohnung sind wir vorerst sicher", versicherte ich ihm.

Wir gingen weiter und kamen kurz vor Sonnenaufgang in meiner Wohnung an. Sie lag in einer Gegend mit vielen engen Gassen und Gebäuden, die dringend auf ihre Sicherheit geprüft werden sollten.

Während Eren hilflos im Flur der kleinen Wohnung herumstand, suchte ich nach einer Taschenlampe. Als ich eine fand, ließ ich schwaches Licht durch die Wohnung scheinen.

,,Am Ende des Flures ist mein Zimmer, Du kannst dir frische Kleidung anziehen. Essen findest du in der Küche... Das Badezimmer ist hier rechts", war alles, was ich zu Eren sagte, bevor ich ihm die Taschenlampe überließ und mich in mein Wohnzimmer begab.

Ich setzte mich auf den Boden an den Tisch und fuhr mit meinen Fingern durch mein Haar. Sie waren verklebt und voller Schweiß. Meine Kleidung stank, sie war dreckig und voller Staub und Blut. Ich trug sie schon lange genug. Ich sollte meine Wunden versorgen und sie desinfizieren.

Die Stellen, an denen Kenny mir meine beiden Finger abgetrennt hatte, schmerzten. Ich bildete mir ein, dass sie noch da wären und ich sie bewegen könnte, aber sie waren weg. Der Schnitt über mein Augenlied hatte eine Kruste gebildet und mein Auge war immer noch angeschwollen und schmerzte.

Sie hatten mich übel zugerichtet. Verprügelt und bespuckt und gefoltert und gequält.

Selbst das Sitzen tat mir weh. Ich wusste nicht, wie ich die vielen Stunden, die ich mit Eren durch Quinta gelaufen war, durchgehalten hatte. Ich wusste nicht, wie ich mit als einziger überlebt hatte.

Furlan war tot. Die Regierung oder das Militär - wer auch immer - hatte ein Monster auf uns losgelassen und dadurch einen schweren Unfall verursacht. Furlan war gestorben.

Isabel war vermutlich in jener Nacht gestorben, in der wir bis spät in die Nacht wach geblieben waren und darauf gewartet hatten, dass sie Isabel zu uns zurück in die Zelle bringen würden. Sie hatten sie auf eine schreckliche Art und Weise zu Tode gequält. Ein junge, naive Frau, die lebensfroh gewesen war.

Erwin hatte in der Arena einen Arm verloren. Dass ich die Wunde so gut es ging verbunden hatte, hatte nichts genützt. Er hatte mir tief in meine Augen geblickt, mir gedankt und seinen letzten Atemzug genommen.

Hanji. Kenny hatte sie erschossen. Er war es gewesen, der sie aktiv umgebracht hatte, um mir zu schaden. Die Frau mit der Brille und dem braunen Haar, mit ihrem dämlichen Grinsen und ihrer unruhigen, aber freundlichen und offenen Art. Sie hatte aber auch unheimlich werden können, unfassbar wütend.

Und dann war da noch Eren. Vielleicht war er auch gestorben, vielleicht bildete ich mir nur ein, dass er hier bei mir war.

Ich vergoss keine einzige Träne. Ich fühlte noch nicht einmal Trauer. In mir drinnen saß eine tiefe Leere und das einzige, was ich fühlte, war Nichts. Ich fühlte nichts, nur eine unfassbar traurige Leere und eine grausame Einsamkeit.

Mir fehlte die Kraft, aufzustehen, mich sauber zu machen und etwas zu essen. Mir fehlte die Kraft zum Leben.

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Monster [Ereri/Riren]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt