Zum Schwimmen verwandelte sich Bailin wieder in die Gestalt, in die er geboren wurde: ein Long-Drache von ca. zehn Meter Länge, mit schneeweißen Schuppen bedeckt. Der Kopf majestätisch geformt, das Maul lang, die Nüstern groß, die Ohren spitz, die Geweihe waren noch nicht ganz ausgewachsen, genauso wie die Mähne und die Tasthaare. Letztere wuchsen immer weiter, ein Zeichen hohen Alters. Die Krallen, die Hühnerfüße glichen, waren sehr scharf.
Bailin schwamm Richtung Osten, immer in die Tiefe hinein, dort, wo kein Mensch hinwagt und man---dank des Longzaubers---Gezeitenwechsel und Erdbeben nicht bemerkt. In seiner menschlichen Gestalt wäre er längst gestorben an Atemnot, Unterkühlung, weiß der Geier was diese Weicheier von Mensch an Krankheiten bekommen. Als Long-Drache aber hatte er genug Platz, sein geschmeidiges Leib durchs Wasser zu bewegen. Durch die Kiemen atmete er geruht ein und aus.
Das Mädchen von geradeeben wollte ihm nicht aus den Sinn gehen. Es hieß Ja-s-min. Was für ein seltsamer Name.
Ihr Gebrüll übers Meer hatte ihn schon verärgert. Sie konnte ja nicht wissen, dass menschliches Geschrei und Geheul, in denen sie ihre Emotionen zum Ausdruck bringen, besonders leicht von Long-Ohren gehört werden können. Nur so wissen sie, wo Dürre und wo Überschwemmung, wo Kälte und wo Hitze herrscht. Dann können sie den Ort bestimmen und dort hinfliegen oder hinschwimmen, je nach dem, und das Wetter regeln.
Erst heute morgen hat sein kleiner Cousin in einem Fischerdorf für Überschwemmung gesorgt, weil er dort gespielt hatte. Dafür hat er---und Bailin natürlich auch Anschiss bekommen, weil er ja auf ihn aufpassen sollte. Also musste er schleunigst in den Süden fliegen, das Dorf ausfindig machen, es von Wasser befreien, um eine Schlammlawine zu verhindern, und schnell wieder zurück. Müde wie er war, wollte er gerade ein Nickerchen halten, da schrie das Mädchen mitten in sein Ohr, sodass er sogar den Unsichtbarkeitszauber vergessen hatte.
Ein hübsches Mädchen. Doch. Recht hübsch. Bailin knurrte unabsichtlich, sodass er einige Fische verscheuchte. Na gut. Sie war das schönste Mädchen, das er je gesehen hatte. In ihrem Schrei hatte er einen Schmerz herausgehört, der nur von der Liebe herrühren konnte. Er hätte aber um seine Tasthaare gewettet, dass der Schmerz bereits langsam am Vergehen war.
Das Mädchen hatte ein weites Hemd mit kurzen Ärmeln getragen, das mit rosa und orange Blüten bedruckt war. Ihre Hose war aus dem blauen Stoff, den sie Jeans nennen, die aber unglaublich kurz war. Darunter hatte sie eingelaufene Sandalen getragen.
Sie sah irgendwie anders aus als die anderen Mädchen, die er auf dem Land gesehen hatte. Ihre Haut war beinahe so blass wie die Long-Haut, aber rosiger. Die dichten, schulterlangen Haare trug sie offen und waren braun mit einem wunderschönen Goldton, wenn die Sonne sie traf. Ihre Augen waren ebenfalls von der Farbe und spiegelten eine besondere Art von Natürlichkeit und Güte wider, die er nur von seiner Schwester kannte und bei den Menschen vergeblich gesucht hatte.
Warum hatte er ihr bloß seine wahre Identität verraten? Wusste er nicht, dass es streng verboten war, einem Menschen das anzuvertrauen, dazu eine, die er überhaupt nicht kannte?
Es ging nicht anders, redete sich Bailin ein. Sie hat mich gesehen. Es ist besser, dass ich ihr das erzählt habe und sie die Klappe hält, als dass sie ihrer Familie von einem weißen Ungeheuer und einem komischen jungen Mann berichtet.
Er konnte aber nicht leugnen, dass er sie auf der Stelle vertraut hatte. Er wusste nicht wieso. Er wusste auch nicht, wieso er sich schon auf den nächsten Tag freute.
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Die Long-Drachen
FantasyAls Molli in den Sommerferien nach Shanghai flog, hatte sie keine Ahnung, dass sie schon bald hinter einem Geheimnis kommen würde: chinesische Drachen, sog. Long-Drachen, existieren wirklich. Doch sie wusste nicht recht, was sie von dem stolzen, mäc...